Vaterwitz

»Pinocchio« (2019). © Greta De Lazzaris

Wenn man es recht bedenkt, erzählen Philippe Garrel und Matteo Garrone dieselbe Geschichte. In »Le sel des larmes« (Das Salz der Tränen) und »Pinocchio« schaut ein alter Schreiner zu, wie sein Sohn die Welt entdeckt. Zwei Romanzen, die von der Furcht handeln, einander abhanden zu kommen.

Eine Mutter gibt es in beiden Filmen nicht. Die Fee mit den blauen Haaren immerhin hat Talent zur Adoptivmutter. Bei Garrel bewirbt sich Luc an einer Pariser Schule für Kunsttischler. Damit erfüllt er den Lebenstraum, der dem namenlosen Vater verwehrt blieb. Zwischen Paris, seiner Provinzheimat und dann wieder zurück in Paris begibt er sich in einen Liebesreigen, nicht ohne eigenes Zutun, aber doch irgendwie passiv. »Seine Feigheit entschied für Geneviève« heißt es im wunderbar aus einem anderen Jahrhundert herüber gewehten Off-Kommentar, »und er ärgerte sich, dass er dabei nicht mitreden konnte.« Pinocchio hingegen, eben noch ein Holzklotz, allerdings bereits ein eigensinniger, springt beherzt in die Welt hinein. Ihm stoßen darin wundersame und schreckliche Dinge zu; Garrone liest Carlo Collodis Vorlage gleichermaßen als Schelmen- wie als Entwicklungsroman. Meister Gepetto kommt kaum hinterher, bei so viel anarchischem Übermut geht ihm die Puste aus. Es läuft zweitweilig auch ohne ihn ganz gut auf dieser Odyssee der Menschwerdung, die Pinocchio lehrt, sich mit Unmöglichkeiten nicht abzufinden. Natürlich steht am Ende dieses Parcours um Welt und Zuhause auch das Entdecken von Verantwortung, was er Garrels Protagonisten erst einmal voraus hat.

Roberto Begnini ist ein herziger Gepetto. Seine Vaterliebe besitzt flottes Pathos. Anfangs schreit er sie laut heraus und weckt die Nachbarn, von denen sich kurioserweise keiner über die Abkunft des Jungen wundert. Im Kern auch eine Lektion um Inklusion. Stolz verkündet er dann, sein Sohn gehe zur Schule. Für die Fibel hat er sein letztes Hemd hergegeben. Ich mochte Begnini in dieser Rolle. Ich glaube, weil er so alt geworden ist.

André Wilms bei Garrel zu sehen, ist zu nächst ein Erschrecken. Er ist zum Greis geworden. Sein Gesicht ist nicht faltig, sondern zerfurcht. Die Hände zittern, wenn sie ein Papier halten. Aber Särge schreinern kann er immer noch. Viel zu tun bleibt ihm nicht mehr auf seine alten Tage. Die Leute sterben zwar noch, aber nicht mehr in der kleinen Stadt. Vater und Sohn verstehen sich gut, auch die Missverständnisse zwischen ihnen sind schön. »Das alles hier wird mehr fehlen«, sagt Luc, als er an der Schule angenommen wird. »Du wirst mir fehlen«, sagt der Vater, ohne Vorwurf, dafür mit der Wehmut des Bescheidenen. Ein großartiger Dialog. Der väterliche Verstand ist hellwach, auch, als Geneviève sich in ihrer Liebesenttäuschung an ihn wendet. Da genügen ihm zwei, drei Worte, damit aus diesen zwei traurigen Daheimgebliebenen Komplizen werden.

Während ich Garrones Film am Sonntag im Berlinale Special sah, fragte ich mich, was für ein Gepetto wohl Toni Servillo geworden wäre, der die Rolle ursprünglich spielen sollte. Ein zurückhaltenderer gewiss, aber vielleicht auch weniger kleinmütig, mithin offensiver im Unglück. Hätte er sich damit abgefunden, seinen Lebensabend im Inneren des Wals zuzubringen? Wilms wiederum, der auch dort schon lebenslistige Veteran vieler Kaurismäki-Filme, ist in Habitus und Erscheinung so ganz anders als Garrels eigener Vater, der in aller Regel unerfreuliche Schauspieler Maurice. Er bringt Vaterwitz in den Film.

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