Interview: Ken Loach über »Sorry We Missed You«
Regisseur Ken Loach © Joss Barratt
Mr. Loach, in Ihrem vorangegangenen Film »Ich, Daniel Blake« wurde der Zorn über die Verhältnisse sehr viel direkter geäußert…
Das liegt vielleicht daran, dass wir die Geschichte um eine Familie herum zentriert haben – eine Familie, die in Not gerät. Sie wehren sich, sie tun ihr Bestes, doch die Situation, in die sie hineingeraten sind, bedeutet, dass sie abends erschöpft nach Hause kommen. Am Ende ist der Vater ein Gefangener in seinem Lastwagen.
Gab es einen konkreten Fall, der dazu führte, sich diesmal mit scheinselbständiger Arbeit zu beschäftigen?
Uns bewegte die zunehmende Unsicherheit im Arbeitsbereich. Früher hatten die Menschen einen Job, der sicher war, mit Kündigungsschutz, mit Gehältern, die ausreichten, um eine Familie zu ernähren. Das hat sich entscheidend verändert. Arbeit ist prekär geworden. Es gibt keine Garantie mehr, ob man morgen noch einen Job hat oder nicht. Die Gehälter sind gesunken, und man weiß nicht mehr, ob man in der nächsten Woche noch dasselbe verdient.
Dabei wollten wir eine Geschichte erzählen, die vielen Menschen zustößt. Es ist keine extreme Geschichte. Wir hätten zum Beispiel die – im Übrigen wahre – Geschichte eines Mannes erzählen können, der seine ganzen Krankenhaustermine verpasst. Er war Diabetiker und hat seine Krankenhaustermine versäumt. Es wäre alles in Ordnung gekommen, wenn er nicht die ganzen Tage für seine Firma hätte fahren müssen. Er ging nicht ins Krankenhaus und starb mit gerade einmal 53 Jahren. Es gab andere Fälle wie diesen. Aber wir dachten, wenn wir einen außergewöhnlichen Fall nehmen, dann würden die Leute sagen: »Das ist ein extremer Fall, eine Ausnahme. So etwas passiert mir nicht.« Doch was wir jetzt beschreiben, passiert Millionen von Familien!
In Großbritannien leben 14 Millionen Menschen in Armut, darunter vier Millionen Kinder.1,5 Millionen Menschen sind völlig mittellos, sie haben nicht die Möglichkeit, sich Lebensmittel oder ein Dach über dem Kopf zu leisten. Letztes Jahr wurden über zwei Millionen Lebensmittelpakete von Wohltätigkeitsorganisationen ausgegeben, davon eine halbe Million für Kinder. Sie hätten sonst nichts zu essen. Die Mittelschicht ist aber auch betroffen. Wohlhabendere Familien haben Telefon und Internet – sie sind plötzlich rund um die Uhr für ihren Arbeitgeber erreichbar. Die neuen Technologien halten uns auf Abruf.
Hier wird die prekäre Arbeit mit euphemistischen Worthülsen kaschiert, die Rickys Boss am laufenden Band produziert.
Paul Laverty hat diese Art, sich auszudrücken, in der Werbung für diese Jobs gefunden. »Sie werden ein Entrepreneur«, »Sie werden der Meister Ihres Schicksals«, »Sie sind ein Krieger der Straße« – das ist eine Sprache, die die Gewinner von den Verlierern unterscheiden soll. In England gibt es auch Fernsehprogramme, die die Idee promoten, dass jeder seine eigener Boss sein könnte. Das ist natürlich eine Lüge, ähnlich, wie wenn eine große Restaurantkette »Auntie May's Apple Pie« bewirbt. Auntie May existiert nicht, der Kuchen wird in einer Fabrik gebacken. Das ist dieselbe Lüge, verpackt in Sprache.
Prekäre Arbeit verrichtet nicht nur Ricky, sondern auch seine Ehefrau als Pflegekraft.
Wir haben festgestellt, dass die Pflegekräfte mitfühlende Menschen sind, die mehr Arbeitszeit investierten, als sie bezahlt bekommen. Um einen alten Menschen aus dem Bett zu hieven, ihm Frühstück zu machen, ihn zu waschen und ihm Medizin zu geben, werden ihnen zwanzig Minuten zugestanden. Unmöglich! Und so mussten sie häufig einfach länger arbeiten. Die Bezahlung ist aber nur für zwanzig Minuten. Die Fahrzeit von einem Patienten zum anderen wird gar nicht bezahlt. So werden sie von einer Stunde nur ein Drittel bezahlt – bei einem Stundenlohn von 8.50 Pfund. Mit anderen Worten: Sie erhalten drei Pfund für eine Stunde Arbeit.
Ihre eigene Energie scheint ungebrochen, auch mit 83 Jahren und fünfzig Jahren als Filmemacher.
Es gibt einfach so viele Geschichten zu erzählen! Jeden Morgen wache ich auf und höre im Radio die BBC, und die Berichterstattung zum Vorteil des rechten Flügels ist so groß, dass man sich schon bei der ersten Tasse Tee zu ärgern beginnt. Das treibt mich zur Arbeit an. Nein – ernsthaft: Es gibt so viele Geschichten zu erzählen, und ich habe das Glück, mit einem wundervollen Autoren zusammen zu arbeiten: Paul Laverty. Wir arbeiten jetzt schon seit einem Vierteljahrhundert zusammen, und seine Energie trägt viel dazu bei.
Sie treffen Sich regelmäßig?
Paul lebt in Schottland und ich in England. Wir schicken uns regelmäßig Mails und telefonieren viel und sehen uns relativ häufig Und so führen wir unsere Unterhaltungen fort. Mit der Unterhaltung kommen Ideen, und diese Idee über Arbeit und ihre Veränderungen ist über eine lange Zeit gewachsen. Paul hat dann recherchiert, ich helfe ihm ein bisschen, und dann reden wir darüber, was für einen Film wir machen wollen. Er schreibt dann einige Charaktere, dann sprechen wir darüber – bis wir zur Essenz der Sache kommen. Dann schreibt Paul eine Storyline, und so nimmt die Sache nach und nach Gestalt an. Wir reden in jeder Phase, aber Paul ist derjenige mit dem Stift in der Hand und schreibt alles auf und dann geht es los.
Ein weiteres Mal gewinnen Sie Ihren Schauspielern eindrucksvolle naturalistische Darstellungen ab. Das Casting nimmt entsprechend lange Zeit in Anspruch?
Ja, das stimmt. Neben dem Drehbuch ist das Wichtigste, es durch die Darsteller zum Leben zu erwecken. Kris Hitchen hat mal als Schauspieler begonnen, aber vor allem als Klempner gearbeitet. Und er besaß einen Lieferwagen. Debbie arbeitet als Assistenzlehrerin mit Kindern, die Lernschwierigkeiten haben, sie hatte vorher einige, aber wenige Schauspielerfahrungen. Die beiden Kinder kommen aus Schulen vor Ort. Sie zu finden war ein langer Prozess, aber sie waren beide toll und es war gut mit ihnen zu arbeiten. Man führt sie einfach von Anfang bis Ende durch die Geschichte und wenn es eine Überraschung gibt, dann ist sie da.
Gab es hier eine Überraschung für die Schauspieler, um ihnen sehr unmittelbare Reaktionen zu entlocken, so wie in »Ich, Daniel Blake« die Szene bei der Lebensmittelausgabe, wo die Frau so hungrig ist, dass sie ein Glas öffnet und sich den Inhalt in den Mund stopft.
Niemand im Film wusste, dass das kleine Mädchen die Schlüssel genommen hatte. Als sie ihnen das erzählte, war das eine Überraschung für sie. Das war schon gefährlich, denn wir wussten nicht, was geschehen würde, besonders wie Kris das aufnehmen würde. Als er im Pub den Telefonanruf erhielt, dachte er, er würde zurückgehen und sagen, »Tut mir leid, es wird nicht wieder geschehen.« Er hatte keine Ahnung, dass sie das sagen würde. Ich denke, das ruft eine große Emotion hervor, denn sie hatte es geheim gehalten. Wir haben gefilmt, wie sie die Schlüssel wegnahm und ich habe ihr gesagt, »Das ist unser Geheimnis. Erzähl niemandem davon.« Sie fragte immer, »Wann kann ich es sagen?« und ich musste antworten: »Jetzt nicht«. In der Szene fingen sowohl sie als auch Kris an zu weinen, das hatte ich nicht geahnt. Aber es schafft eine bestimmte Art von Energie. Wenn man eine Lesung macht, dann ist das sechs Wochen später beim Dreh nicht von Interesse. Aber es ist ein Risiko.
Wie viele Leute haben Sie zum Vorsprechen kommenlassen?
Hunderte. Ich arbeite mit einer Casting Directorin, die dieselben Ideen hat wie ich. Wir beginnen damit, dass wir uns zusammen Leute anschauen. Dann arbeitet man heraus, was gebraucht wird. Die Listen werden kürzer, wir sehen sie sieben Mal, in verschiedenen Situationen, wir machen kleine Improvisationen.
Wie schwer ist es, Nicht-Professionellen zu sagen, dass sie die Rolle nicht bekommen haben?
Jeder weiß, dass es auch noch anderer Bewerber gibt. Wenn sie so weit gekommen sind, kann man ihnen sagen, dass sie wirklich gut sind, das sollte sie sich stärker fühlen lassen.
Wie »Ich, Daniel Blake« haben sie auch diese Geschichte in Newcastle angesiedelt…
Das ist ein guter Ort, um dort zu arbeiten. Die Geschichte könnte überall spielen, aber Newcastle ist gut, weil dort die traditionellen Industrien wie Kohle, Stahl und Schiffbau verschwunden sind. Es gibt eine lange Tradition von Arbeitskämpfen, der Dialekt ist sehr stark, die Sprache ist komisch, sie haben eine Fußballmannschaft, Newcastle United, die jeder unterstützt. Es hat eine sehr starke reiche Kultur, die Sprache, die Architektur und die Landschaft.
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