Das Wort und der Raum
Der bildenden Kunst stand die Welt bisher nicht so weit offen wie dem Kino. Ein Film kann, sofern dies nicht die politische, religiöse oder ökonomische Zensur verhindert, im Prinzip auf allen Kontinenten gleichzeitig laufen. Bouchra Khalili ist eine bildende Künstlerin, die sich anschickt, die Aufholjagd zu gewinnen.
Ihr Werk ist zeitgleich an vielen Orten präsent, denn es löscht die Grenzen zwischen Film und visueller Kunst aus: Sie wählt Medien – Videos, Fotografien und Siebdrucke –, die auf Vervielfältigung hin konzipiert sind; zumal ihre Themen nach ungehinderter Ausstrahlung verlangen. Allein in diesem Jahr war die marokkanisch-französische Künstlerin bisher mit Einzelausstellungen in Wien, Sevilla, Oslo, Essen, London und Tokio vertreten. Khalili hat gerade mächtig Konjunktur; ihre Schau »Blackboard« ist noch bis zum 23.9. im Pariser Jeu de Paume zu sehen.
Wie die anderen Ausstellungen versammelt auch sie Arbeiten aus den letzten zehn Jahren. Auch die älteren unter ihnen haben die Aktualität auf ihrer Seite. Ihre Themen sind Migration und Identität; ihre Arbeiten erheben Einspruch gegen die bestehende Weltordnung. Bekannt wurde sie vor allem durch die achtteilige Video-Serie »The Mapping Projekt«. In statischen Plansequenzen zeichnen acht Migranten auf Landkarten die jeweilige Route ein, auf der sie nach Europa gelangt sind (in einem Fall ist es ein Palästinenser, der die Checkpoints nach Israel umgehen will). Sie selbst sind nie zu sehen, ihre Stimme erklingt aus dem Off. So vollzieht eine strenge Form das Erleben von Entwurzelung im Verhältnis von Bildraum und Wort nach. Die Politik hat uns längst darauf eingeschworen, Flucht als Massenphänomen zu fürchten, als Zustrom und Welle. Khalili stellt die individuelle Erfahrung dagegen. Seit Chemnitz muss ich viel an sie denken; und erst recht, seit unser Heimatminister die Migration in vollendeter Saddam-Hussein-Diktion als Mutter aller Probleme bezeichnete.
Zum ersten Mal bin ich Bouchra Khalilis Namen begegnet, als ich in einer Jury des Berliner Künstlerprogramms saß, das vom daad veranstaltet wird. Sie hatte sich um ein sechsmonatiges Aufenthaltsstipendium in der Sparte »Film« beworben, obwohl sie bei der »Bildenden Kunst« Aussichten auf ein ganzes Jahr in Berlin gehabt hätte. Die Begeisterung, die ihre Arbeitsproben unter uns Juroren auslöste, war einhellig, wenn ich mich recht erinnere. Damals hatte sie »The Mapping Journey« schon abgeschlossen. Mich beeindruckte ein anderer Filmausschnitt allerdings noch mehr, den ich aus der Erinnerung jedoch nur unzureichend rekonstruieren kann. Es geht um das Aufspüren alter Fotografien, die Zeugnis ablegen von der Geschichte eines Ortes. Ebenso wie in einem schönen Nebenstrang von Philippe Le Guays neuer Komödie »Ein Dorf zieht blank« wird die Gebrauchsfotografie aufgerufen als das Archiv eines erloschenen Alltags. Ich erinnere den Titel dieses Films nicht – vermutlich gehört er keinem Zyklus –, würde ihn aber gern noch einmal sehen. Im Nachhinein erschien es mir, ich sei mit dieser Vorliebe mal wieder in die Nostalgiefalle getappt, während die Landkartenfilme doch offenkundig dringlichere Relevanz besaßen.
Beim Besuch der Pariser Ausstellung durfte ich feststellen, dass die Überlieferung aber tatsächlich eine wichtige Rolle in ihrer künstlerischen Arbeit spielt. In den drei Videos der »Speeches Series« (2012-13) lässt sie Migrantinnen den Text wegweisender Traktate des Anti-Kolonialismus und der Bürgerrechtsbewegung verlesen und baut eine Spannung auf zwischen der Nüchternheit der filmischen Repräsentation des Ambientes und der Diktion zum flammenden Elan der historischen Reden. Die Zeugnisse in ihren Filmen, sagt sie in einem Interview im Katalog, weisen nicht in die Vergangenheit zurück, sondern die Zukunft. Ich habe es ganz gern, wenn ein Künstler dem Kritiker einen Schritt voraus ist.
In »Foreign Office« von 2015 betrachtet sie die Spuren, die das Jahrzehnt zwischen 1962 und 1972 in zentralen Räumen hinterlassen hat, als Algerien zum Fluchtpunkt diverser Widerstandsbewegungen (der Black Panther Party, dem ANC des inhaftierten Nelson Mandela etc.) wurde. Die Büros und Salons (auch ein Kino taucht auf) erscheinen wie Geisterorte in Khalilis Fotografien, während in ihrem Video zwei junge Algerier die Historie gewissermaßen überschreiben. In dieser Installation begegnete ich zugleich einer Epoche und einigen Figuren wieder, die auch Chris Marker intensiv beschäftigt haben, was ich kurz zuvor beim Besuch der Ausstellung in der Cinémathèque entdeckt hatte. Khalilis Verbindung zu Marker ist eng, sie hat ausführlich über ihn geschrieben, insbesondere das Verhältnis von »La Jetée« und »Sans Soleil« überraschend neu interpretiert. Ohnehin scheint das Kino für sie eine wichtigere Interpretationsquelle ihrer Arbeit zu sein als die bildende Kunst. Übrigens hat sie die Cinémathèque von Tanger mitbegründet. Sie bezieht sich immer wieder auf Pasolini und Straub; der Ausstellungstitel »Blackboard« verweist auf eine Vorlesung, die Godard in den USA hielt. »Twenty-Two Hours", in diesem Jahr entstanden, folgten den Spuren von Jean Genet, der 1970 auf Einladung der Black Panther die USA besuchte. Wie in »Foreign Office« formiert die Perspektive zweier Nachgeborener die Sicht auf die Vergangenheit neu.
Der Bezug auf Leitsterne und Vorbilder scheint mir für die Künstlerin wichtiger zu sein als für den Betrachter. Khalilis Arbeiten brauchen keine Gebrauchsanweisung, sie geben ihr ästhetisches wie politisches Vorhaben rasch zu erkennen. Was an Hintergrundwissen zu ihrem Verständnis nötig ist, lässt sich in den Bildlegenden erfahren. Die »Wet Feet Series«, ein Zyklus von neun Fotografien von 2012, erschießt sich tatsächlich erst durch die Darlegung der gleichnamigen Gesetzgebung Floridas, die es gestattete, kubanische Flüchtlinge zurückzuschicken, wenn sie im Meer aufgegriffen wurden. Wer hingegen das Festland erreicht hatte, durfte sich Chancen ausrechnen, eingebürgert zu werden. Haitianer, die nach dem Erdbeben aus ihrer Heimat flüchteten, wurden in jedem Fall wieder abgeschoben. Wut und Melancholie verschmelzen in diesen fotografischen Ortsbesichtigungen.
Die serielle Struktur ist für Khalili nicht notwendig ein Spielfeld der Variation, wohl aber Terrain vielfacher Erfahrung. Das Erleben von Migration und verhinderter Beheimatung gewinnt in der »Constellation Series« von 2011 eine abstrakte Form. Sie ist der Abschluss des »Mapping Project« und überträgt die gezeichneten Routen von den Landkarten auf das Firmament. Die Wegmarken sind nun Gestirne. Das besitzt eine Anmut, die den Zuschauerblick aber nicht entlastet. Die Ländergrenzen sind unsichtbar, aber man behält sie im Hinterkopf. Fast am Ende der Ausstellung stieß ich auf eine Arbeit, die sie während ihres Aufenthalts in Deutschland realisierte. »The Seaman« zeigt Ansichten des menschenleeren Hamburger Hafens, während aus dem Off ein philippinischer Matrose über die Arbeitsbedingungen im globalisierten Warenhandel spricht. Wiederum kommen die menschliche Stimme und ein Ort zusammen, ohne sich zu verbinden.
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