Kritik zu Leave No Trace
Debra Granik (»Winter's Bone«) erzählt in ihrem neuen Film von einem Vater-Tochter-Paar, das abseits der Zivilisation in den Wäldern lebt
Ein hervorragendes Beispiel, um die Zwänge unserer modernen Zivilisation auf den Punkt zu bringen, ist das sogenannte standardisierte Testverfahren: eine Liste von Fragen, dazu entworfen, um sie von einem Computer nach algorithmischen Vorgaben auszuwerten, ganz effektiv und kalt. Wachen Sie nachts manchmal auf mit düsteren Gedanken? Denken Sie, dass Sie im Leben mehr hätten erreichen können? Glauben Sie, dass Sie viel Pech hatten? Mit solchen Fragen, gestellt auch noch von einer Maschine statt von einem Menschen, sieht sich Will (Ben Foster) in Debra Graniks »Leave No Trace« an einer Stelle konfrontiert – und versagt. Dabei sind es nicht die einzelnen Fragen, die ihm zu schaffen machen, sondern das Setting: die demütigende Tatsache, gewissermaßen von einer Maschine untersucht zu werden, und der Verdacht, der sich aus dem Fragenkatalog indirekt, aber deutlich herausschält, nämlich dass man ihm eine wie auch immer geartete mentale Störung unterstellt. Von wegen effektiv – in dieser einen Szene macht der Film klar, dass standardisierte Testverfahren nichts aufklären können, sondern nur das bestätigen, was man vorher schon zu wissen glaubt.
In der Tat weiß auch der Zuschauer da schon längst, dass mit Will etwas nicht stimmt. Mit seiner 13-jährigen Tochter Tom (Thomasin McKenzie) lebt er als Obdachloser in den Wäldern. Wenn man die beiden das erste Mal sieht, könnte man noch glauben, dass sie campen. Völlig unaufgeregt offenbart die Kamera die Details ihres Lebens, das komplexe System an Ablagen unter Bäumen und Planen, in selbst gegrabenen Löchern und mit Laub getarnten Kisten. Man begreift, dass die beiden zwar provisorisch an diesem Ort leben, dass ihr Unbehaustsein aber nicht zeitlich begrenzt ist. Eines Tages werden sie von Rangern aufgespürt; es ist sicher nicht das erste Mal. Die darauffolgende temporäre Trennung voneinander, samt der Befragung durch diverse Sozialarbeiter und der oben beschriebenen Untersuchung, empfinden sie beide als traumatisch. Dabei werden sie nicht schlecht behandelt, im Gegenteil, man versucht ihnen zu helfen, verschafft ihnen Unterbringung und Arbeit. Während Tom die Veränderung genießt und mit Neugier auf die sich bietenden sozialen Kontakte eingeht, wird Will von seinen Dämonen eingeholt. Er muss wieder aufbrechen, ins Freie, in die Einsamkeit. Die Frage ist, wie lange seine Tochter noch bereit sein wird, ihm zu folgen.
Granik, die mit ihrem zweiten Spielfilm »Winter's Bone« 2010 nicht nur einen Independent-Erfolg lancierte, sondern auch Jennifer Lawrence der Welt vorstellte, gelingt erneut die einfühlsame und vorurteilsfreie Erkundung einer Außenseiterperspektive. Ihr Film braucht für Will keine Diagnose, der vage Hinweis auf ein posttraumatisches Syndrom reicht aus, um der Figur emotionale Wucht und Glaubwürdigkeit zu verleihen. Ben Foster macht in einem wunderbar beherrschten Auftritt sichtbar, dass für Will schon das reine Weiterleben einer beschwerlichen Wanderung gleichkommt. Seine Tochter liebt er so selbstverständlich, dass er ihr Recht auf Freiheit respektieren wird.
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