Ich möchte Sie auch etwas fragen

»Agnés Varda«

Sehr geehrte Madame Agnès,

bei unserem letzten Interview ließen Sie diese Anrede zu und bei unserem letzten Mailkontakt schien uns beiden diese Ansprache ebenso angemessen. In der Verbindung des "Sie" mit der Familiarität des Vornamens liegt eine höfliche Innigkeit, die der Hochachtung entspricht, die ich für Sie empfinde. Sie ist auch dem Anlass angemessen, aus dem ich Ihnen schreibe: Ihrem 90. Geburtstag, zu dem ich Ihnen ganz herzlich gratuliere.

Sie werden diesen Brief gewiss nie erhalten und werden auch bald merken, weshalb. Offene Briefe sind immer ein wenig prätentiös. Aber das müssen nun meine Leser aushalten und nicht Sie. Diese Art der Anrede wahrt aber auch eine gewisse Distanz. Sie mag sich nicht wirklich Vertraulichkeit erschleichen, die sich, wie ich finde, zwischen Journalisten und Filmemachern nur höchst selten gehört - und auf die ich ohnehin nach unserer ersten Interviewbegegnung jedes Anrecht verwirkt habe.

Dabei hatten wir uns am Vorabend gut verstanden. Es muss in Frühjahr 1992 gewesen sein. An diesem Abend wurde die Berliner Premiere von »Jacquot« gefeiert, Ihrem Spielfilm über die Kindheit Ihres Mannes Jacques Demy, der zweieinhalb Jahre zuvor gestorben war. Ihre Pressebetreuerin stellte mich nach der Vorführung als einen der Interviewer des nächsten Tages vor und Sie setzten sich kurzerhand an unseren Tisch. Während unseres Gespräches horchten Sie besonders auf, als ich Ihnen von der DEFA-Fassung von »Die Mädchen von Rochefort«, auf deren Tonspur es einen fiktiven Erzähler gibt, der die Ereignisse auf ziemlich überflüssige, aber kuriose Weise kommentierte. Es ist, wenngleich nicht in dieser Version, neben »Lola« noch immer mein Lieblingsfilm Ihres verstorbenen Mannes. Ich versprach, am nächsten Tag eine Videocassette mitzubringen.

Als ich am Nachmittag zu unserem Termin erschien, legten Sie gerade eine Patience. Das ist ja wie in »Cleo«, sagt ich, wobei das zu diesem Zeitpunkt einer der wenigen Ihrer Filme war, den ich kannte. Falls Sie bereits mein diesbezügliches Halbwissen durchschauten, ließen Sie es sich vorerst nicht anmerken. Gleichviel, das schien ein guter Auftakt für unser Gespräch, das eine Stunde dauern sollte. Es brauchte eine ganze Weile, bis ich spürte, dass Ihnen der Verlauf des Interviews immer weniger behagte. Sie wiederum merkten schnell, dass es mir an Sensibilität dafür mangelte und fingen an, sich gegen meine Fragen zu wehren. Von diesem Tauziehen ist im in der "tageszeitung" veröffentlichten Interview übrigens viel zu spüren. „Sie wollen mit mir immer nur über Jacques Demy sprechen, "zitiere ich Sie, "während ich vor allem über Jacquot sprechen will. Sie sind sehr eigensinnig, aber glauben Sie mir, ich bin es auch!" Irgendwann weigerten Sie sich dann strikt, weitere Fragen zu Demy zu beantworten. Sie wollten wissen, ob ich Ihren Film denn überhaupt mochte. Das tat ich selbstverständlich und wir rauften uns zusammen. Nun bekam unser Gespräch eine andere Dynamik. Es wurde lebhafter, wovon ich aber nur wenig mitbekam, weil mir mittlerweile klar geworden war, wie taktlos ich mich gegenüber Ihnen verhalten hatte. Sie wollten über Ihren Film sprechen und ich fügte Ihnen die Kränkung zu, über einen anderen Filmemacher reden zu wollen.

Am Ende dieser Begegnung beschämten Sie mich mit einer großzügigen Geste. Ich bat Sie, ein Buch über Ihr Werk zu signieren, das ich in der Bibliothek des Filmmuseums ausgeliehen hatte. Auf der Seite gegenüber einem Foto, das ich sehr mochte, weil es Sie als junge Fotografin stolz neben ihrer Kamera zeigt, war Platz dafür. Ihre Widmung lautete: "Von einem Jacques-Demy-Bewunderer für einen anderen." Sie gaben uns die Chance, nicht unversöhnt auseinander zu gehen, benannten aber auch den Preis, denn das kostete. Das war eine Lektion, die mir fast das Herz zerriss.

Als ich mich ein paar Tage später gefangen hatte, rief ich meinen Redakteur an, um ihm zu gestehen, dass ich das Interview vermasselt hatte. Er versuchte., mich zu beschwichtigen: "Niemand hat bisher ein leichtes Interview mit Agnès Varda geführt", meinte er, was natürlich Unfug war, weil unterdessen ein großartiges Gespräch im "tip" erschienen war, das eine hoch geschätzte Kollegin mit Ihnen geführt hatte. Als mein Redakteur später die Transkription unseres Gespräches las, spürte er die Spannung, die sich darin spiegelte und wählte als Überschrift genau den Moment, in dem Sie das Ruder umwarfen ("Ich möchte Sie auch etwas fragen."), was den Charakter des Zwiegesprächs gut traf, für mich die ganze Sache aber nicht leichter machte.

Mit diesem selbst verschuldeten Trauma lebe ich nun. Es hätte seither Gelegenheiten gegeben, Sie um Entschuldigung zu bitten. Aber auf eine Wiedergutmachung mochte ich nicht hoffen. Ein, zwei Jahre später hatten Sie »Die Regenschirme von Cherbourg« restauriert und brachten den Film neu in die Kinos. Ich sah ihn im »Action Christine« im sechsten Arrondissement. Als ich das Kino verließ, standen Sie mit einem kleinen Team am Ausgang und wollten die Zuschauer dazu bringen, über den Film zu sprechen und das berühmte Lied von Jacques Demy und Michel Legrand zu singen. Ich floh auf die andere Straßenseite und schaute voller Bewunderung zu, wie Sie einige Besucher tatsächlich dazu animierten. Ich blieb fast eine Stunde in meinem Versteck und kam zu spät zum Abendessen mit einem Kollegen, der, nachdem ich ihm meine Geschichte berichtet hatte, mit der ihm eigenen Geistesgegenwart spottete, ich hätte doch zu Ihnen sagen können, ich beantworte keine Jacques-Demy-Fragen mehr!

Unterdessen drehten Sie zwei weitere, wunderschöne Filme über Ihrem verstorbenen Mann. Das entlastete mich nicht, inspirierte mich aber zu einer Spurensuche an den Drehorten seiner Filme. Das war eine Pilgerfahrt. Aber suchte ich vielleicht vor allem nach Buße? Es war eine wichtige Reise für mich. Eine halbe Nacht saßen ich und meine Begleiterin am Strand vor der Mühle auf der Insel Noirmoutier, in der Sie und Demy gewohnt hatten. um den Sternenhimmel zu bewundern. Da ich mich nicht traute, nahm die Zeitschrift, die den Reisebericht veröffentlichte, Kontakt mit Ihrer Produktionsfirma auf, um Illustrationen und Dokumente für den Artikel zu bekommen. Ihr damaliger Assistent war ganz begeistert von dem Projekt und teilte der Redaktion mit, auch Ihnen habe die Idee sehr gefallen. War das der Segen, den ich brauchte?

Aber längst hatte eine Veränderung in mir statt gefunden. Es war nicht so, dass ich dem Glück entwachsen war, das mir Jacques Demys Filme bereiteten: So etwas beleidigt beide Beteiligten. Aber Ihre Filme bereiteten mir mittlerweile ein Glücksgefühl, das andere Facetten hatte. Die Neugierde, von denen sie angetrieben werden, führten mich an neue Gestade. Mittlerweile hatten Sie aufgehört, Spielfilme zu drehen. Das war ein trauriger Abschied für mich, weil ich »Die Geschöpfe«, »Le Bonheur« sowie »Vogelfrei« lieben und »Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7« neu lieben gelernt hatte. Aber diesen Wandel in Ihrem Werk konnte ich dennoch nachvollziehen. »Die Sammler und die Sammlerin« empfand ich als ein großes Geschenk an das Kino, eine Erweiterung seines Blickfelds in die Randzonen der Gesellschaft. Es beeindruckte mich, dass Sie Geschichten fanden, wo andere Regisseure nie nach solchen suchen würden. In der Fondation Cartier sah ich die schöne Installation, die Sie als Hommage an die Insel Noirmoutier gestaltet hatten. Ihr Blick entgrenzte sich immer mehr, ohne das Kino zu verlassen.

Ein paar Jahre später traf ich Sie in Paris für ein Interview zu »Agnès' Strände«. Sie gaben viele Interviews an dem Tag und wir hatten wenig Zeit. Am Liebsten hätte ich nur über die tiefe Resonanz gesprochen, die Ihre Filme zwischen Orten und Personen herstellen. Dieser Ansatz gefiel Ihnen; es freute Sie, dass ich Ihre Ausstellung über Noirmoutier gesehen hatte. Ich vermied es, die Jacques-Demy-Reise zu erwähnen, erzählte aber, wie glücklich ein Pariser Freund gewesen war, als er Sie einmal nach einer Veranstaltung heimfuhr und Sie ihm aus Dankbarkeit vorschlugen, dabei die Drehorte von »Cleo« aufzusuchen. Sie erinnerten sich.

Mir gefiel, dass »Agnès' Strände« ein Selbstporträt ist, dass von der Welt erzählen will. Ich war bereit für Ihr Kino, es brauchte längst keine andere Brücke mehr zu ihm. Es nimmt sich ungeheure Freiheiten: im Wechsel des Tonfalls, der Gattungen. In Ihren Dokumentar- und Essayfilmen sind Sie ja selbst zu einer Kinofigur geworden, nicht aus Narzissmus, sondern als unermüdlich Suchende. Vor ein paar Wochen sah ich zum ersten Mal »Onkel Yanco«, den Sie 1967 in Kalifornien über einen Verwandten drehten, der als Künstler auf einem Hausboot lebt und die Menschen aus seinem Umfeld vorstellt, die allesamt der Gegenkultur angehören. Er spricht über sie in dem gleichen gewährenden, umarmenden, offenen Gestus, mit dem Sie sich den Menschen nähern. Die Gabe der Familiarität liegt wohl in Ihrer Familie. Das Sehen dieses Kurzfilms war eine schöne Vorbereitung auf »Augenblicke: Gesichter einer Reise«, der mich verzaubert hat. Morgen läuft er in unseren Kinos an und ich wünsche ihm eine Menge Zuschauer.

Viele Ihre Filme sind Wiederbesichtigungen von Menschen und Orten, die Sie schon einmal porträtiert haben. Ihr neuer zeigt, wie klug, fruchtbar und der Zukunft zugewandt Ihre Nostalgie ist. Auch das ist eine Lektion für mich. Sie söhnt mich nicht aus mit dem jungen Interviewer, dem Sie einmal trafen. Aber ich bin Ihnen unendlich dankbar für den Ansporn, den die Begegnungen mit Ihnen und Ihrem Kino seither für mich waren.

Ein herzlicher Gruß von Ihrem Bewunderer

Gerhard Midding

 

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