Berlinale: Das große Kuddelmuddel
Juia Zange und Josef Mattes in »Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot (2018)
Zu Beginn beherrschte noch #MeToo die Debatte um die Berlinale. Doch dann sorgten die Filme des Wettbewerbs für Diskussionen und schlechte Laune. Immerhin endete das Rennen um den Goldenen Bären mit einer Überraschung – wenn auch einer fragwürdigen
Wer einmal versucht hat, Prognosen über die Gewinnerfilme von Festivals abzugeben, weiß, dass am Ende immer alles ganz anders kommt. Den Sieger der 68. Berlinale-Ausgabe jedenfalls, den Gewinner des Goldenen Bären, hatte niemand auf dem Radar gehabt. In den Favoritenlisten der Kritiker in den Tageszeitungen und Fachzeitschriften führten andere Filme, etwa Christian Petzolds in die Gegenwart transponierte Anna-Seghers-Verfilmung »Transit«. Aber die Jury entschied sich am Ende der zehn Festivaltage für »Touch Me Not« der Rumänin Adina Pintilie.
Am Anfang dieses Films sieht man, wie das Team die Kamera aufbaut. Es ist der Beginn einer Versuchsanordnung, in der die Regisseurin Intimität und Sexualität, aber auch Nähe und die Angst davor verhandelt. Im Mittelpunkt steht eine Frau, die sich zu Beginn einen Callboy bestellt hat und ihm beim Masturbieren zuschaut. Was das Tattoo auf seiner Haut bedeute, fragt sie ihn. Das sei persönlich, antwortet er nur. Das setzt auch den Ton dieses Films, in dem es immer wieder um Distanz und Öffnung geht. Laura (Laura Benson) ist quasi der Katalysator des Films, der in einer Melange aus Dokumentation und Fiktion auch einen Körpererfahrungsworkshop mit behinderten Menschen beobachtet.
»Zuschauer fliehen vor zu viel Sex bei Sex-Doku«, hatte die in diesem Metier ja beschlagene »Bild«-Zeitung getitelt und den Umstand gemeint, dass bei den Pressevorführungen viele Journalisten relativ schnell das Weite gesucht hatten. Aber das Problem sind nicht die Sexszenen von »Touch Me Not«, sondern dass er am Ende ziemlich ergebnislos bleibt. Dass jeder unter Intimität und Sexualität etwas anderes versteht, stellt nun keine so ganz neue Erkenntnis dar.
»Wilde und sperrige Filme« hatte sich Jurypräsident Tom Tykwer (dessen Filme ja selten wild oder sperrig waren) in einem Interview gewünscht. Nun, da hat er einige bekommen. Philip Grönings »Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot« ist mit seinen drei Stunden so etwas wie ein Kammerspiel unter freiem Himmel, ein Zweipersonenstück mit Todesfolge. Die Zwillinge Robert (Josef Mattes) und Elena (Julia Zange) liegen vor einer Tankstelle im Gras. Sie lernen für Elenas Abiturprüfung in Philosophie – was vor allem Robert Gelegenheit zu ausführlichem Schwadronieren über die Zeit (»Der Grund der Zeit ist die Hoffnung«) gibt. Sie provozieren einander, holen Bier aus der Tankstelle, wandern auch einmal zu einem See in der Nähe. Die beiden leben in der Ausschließlichkeit ihrer eigenen Welt – und wahrscheinlich muss deshalb der Tankwart am Ende dran glauben, in einer Blutorgie à la »Natural Born Killers«. Grönings Film hat zwar den besten Titel des ganzen Wettbewerbs, aber trotz seiner drei Stunden Länge erschließt sich am Ende die Zwangsläufigkeit des Gewaltausbruchs nicht.
In früheren Jahren wäre »Touch Me Not« in der Berlinale-Sektion Panorama gelaufen (wegen dem Sex), Philip Grönings Film in der ehemaligen Innovativ-Sektion Forum (wegen seiner Redundanzen und seiner Länge). Die Ära Kosslick hat aus dem Wettbewerb ein Kuddelmuddel aller drei wichtigen Sektionen gemacht. Das geht auch zulasten von Forum und Panorama. Vielleicht war die Zeit ja produktiver, als die Reihen untereinander noch um die Filme stritten. Wer einen Wettbewerb nach dem Mischmaschprinzip zusammenstellt, darf sich nicht wundern, wenn dem Festival Profillosigkeit vorgeworfen wird. Oder dass, wie im letzten November geschehen, Regisseure mit einer Erklärung auf den Plan treten und fordern, mit der Neubesetzung der Stelle (Festivalchef Dieter Kosslick geht 2019 in den Ruhestand) das Festival »programmatisch zu erneuern und zu entschlacken«.
Beide Filme, der von Gröning wie der von Pintilie, beobachten ihre Figuren wie in einer Laborsituation. Menschen im Ausnahmezustand, das lässt sich als Tendenz vieler Filme des Wettbewerbs ausmachen. In »Unsane«, einem mit dem Handy gedrehten Horrorfilm des US-Amerikaners Steven Soderbergh (außer Konkurrenz), wird eine Bankerin gegen ihren Willen in einer psychiatrischen Klinik eingebuchtet – und muss erkennen, dass der Mann, der sie jahrelang gestalkt hat, dort als Pfleger arbeitet. »Utoya 22. Juli« ist die Rekonstruktion des Attentats auf der norwegischen Insel vor sieben Jahren, gedreht in einer einzigen Einstellung mit Handkamera, atemlos, immer aus der Perspektive der Opfer. In dem polnischen Film »Twarz« (Gesicht) von Malgorzata Szumowska (die schon mit »Body« und »Im Namen des...« im Wettbewerb vertreten war), ist ein Bauarbeiter nach einem Unfall und einer Gesichtsoperation ziemlich entstellt und muss sich neu orientieren. »Twarz« ist eine Mischung aus Problemfilm und Satire auf die polnische Befindlichkeit zwischen Katholizismus und Ausgrenzung. Dafür hat Szumowska zu Recht den Großen Preis der Jury bekommen. Der Philippine Lav Diaz, bekannt für seine überlangen Filme, lässt seinen »In Zeiten des Teufels« (vier Stunden) in der Zeit des Kriegsrechts der Marcos-Diktatur spielen, als Paramilitärs Rebellen und Revolutionäre verfolgten. In bewusst theaterhaft inszenierten Episoden und Tableaus in Schwarz-Weiß erzählt er die Lebensgeschichten seiner vier Hauptfiguren und den Einbruch der Gewalt. Gesprochen wird nicht in diesem Film, sondern a cappella gesungen, was die Getragenheit seiner Tableaus noch verstärkt.
Vom Druck der Gesellschaft und des Systems auf die Menschen, von der bleiernen Zeit, in der sie leben, erzählt auch »Dovlatov« von Alexej German jr, einer der besten Filme dieses seltsamen Wettbewerbs, dem offenbar Weltpremieren wichtiger waren als gelungene Filme. Germans »Under Electric Clouds« lief vor zwei Jahren im Wettbewerb – auch die Berlinale pflegt ihre Talente, in diesem Fall zu Recht. Sergej Dovlatov ist Journalist, er soll in den Tagen der Feierlichkeiten zum Gedenken der Revolution einen Film drehen über die Arbeiter einer Werft, die ihre Schiffe nach großen russischen Dichtern benannt haben. Und er bewirbt sich bei einer literarischen Zeitschrift, die aber seine Texte ablehnt, weil sie zu ironisch sind. Eine literarische Karriere ist ihm verschlossen, weil der Schriftstellerverband ihn nicht aufgenommen hat: Kein Verlag wird ohne dessen Genehmigung seine Texte drucken. Der Film spielt im November 1971 in Leningrad, im Betonkommunismus der Breschnew-Ära.
Dovlatov hat auch heute noch in Russland Kultstatus, er emigrierte 1978 in die USA, in seiner Zeit in der Sowjetunion ist nie ein Buch von ihm erschienen. German blickt in den sechs Tagen seines Films mit dem serbischen Schauspieler Milan Maric in der Titelrolle in den Mikrokosmos der sowjetischen Untergrund-Intelligentsija, in die Enge der Lebensverhältnisse und den alltäglichen Kampf ums Überleben. So wie draußen die Nebel im Winter wabern, so hat German die Innenräume in gelben Tönen aufgenommen.
Vier deutsche Filme liefen in dem 19 Filme umfassenden Berlinale-Wettbewerb, der in diesem Jahr auch erschreckend viele Tiefpunkte hatte, zum Beispiel Benoît Jacquots uninspirierte James-Hadley-Chase-Verfilmung Eva, an die sich Joseph Losey in den Sechzigern schon viel furioser herangewagt hatte. Die deutschen Beiträge gingen alle am Ende leer aus. Das ist eigentlich nicht weiter schlimm. Aber die Jury um Tykwer hat dabei ein kleines Meisterwerk übersehen: »In den Gängen« von Thomas Stuber. Ein Film, der unter den Beschäftigten eines Großmarkts spielt, in der Welt der Malocher und Wendeverlierer. Und ein Film, der wie kein anderer in den letzten Jahren viel Zeit darauf verwendet, menschliche Arbeit darzustellen. Zum Beispiel das Einräumen von Kisten – und das Gabelstaplerfahren. Immerhin hat er den Preis der Ökumenischen Jury bekommen.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns