Reise um die Welt in 100 Vorführungen
Der Titel dieses Festivals hat eine ansehnliche Herkunft. »Toute la mémoire du monde« (»Das Gedächtnis der Welt«) heißt einer der schönsten Kurzfilme von Alain Resnais, der poetisch die Bestände der Pariser Nationalbibliothek ausspäht. Ein solcher Titel hängt die Messlatte hoch – und in diesem Fall auch weit.
Zum sechsten Mal veranstaltete die Cinémathèque francaise in der letzten Woche ihr Fest des restaurierten Films. Die Idee dazu reicht in die späten 1980er Jahre zurück; die damalige Veranstaltung hieß »Ciné-mémoire« und lief leider nur ein paar Jahre. Im digitalen Zeitalter bekam das Vorhaben neuen Aufwind. Die Besucherzahlen steigen von Jahr zu Jahr; nun scheinen sie sich konsolidiert zu haben. Seit ein paar Jahren findet es nicht mehr nur im eigenen Haus in der Rue de Bercy statt und schließt Spielstätten in anderen Pariser Stadtteilen ein. In 100 Vorstellungen wirft es das Netz aufs Weltkino weit aus (Asien blieb in diesem Jahr unterbelichtet) und vereint populäres Flair mit wissenschaftlichem Anspruch.
Es liefert nicht nur eine Plattform für die aktuellen Restaurierungen der großen heimischen Konzerne Gaumont und Pathé und internationaler Player wie der finanzstarke Cohen Group. Vor allem stellen Filmmuseen ihre Schätze vor. Die Deutsche Kinemathek in Berlin präsentierte ein Programm mit Filmen von Peter Nestler, das Münchner Filmmuseum feierte einen schönen Erfolg mit Syberbergs »Romy, Porträt eines Gesichts«. Es fand eine knappe Exkursion durch die ungarische Filmgeschichte statt, der Schauspielerin Stefania Sandrelli war eine muntere Hommage gewidmet; es wurde eine Russ-Meyer-Nacht veranstaltet. Über weitere Reihen werden ich in den nächsten Tagen berichten. Stargast und Pate der diesjährigen Ausgabe war Wim Wenders, der neun eigene Filme sowie eine kleine Carte Blanche zeigte und das Publikum am ersten Tag mit Beispielen der Arbeit seiner eigenen Stiftung verblüffte: Kaum zu glauben, dass aus dem verschlissenen Filmmaterial so famose Kopien in HD-Qualität werden konnten!
Der erste Festivaltag ist traditionell auch ein Studientag, an dem diverse Aspekte der Restaurierung vorgestellt, leider aber kaum diskutiert werden. Besonders interessant fand ich den Vortrag der Agentin Marina Girard, die Filmemacher wie den Cinémathèque-Präsidenten Costa-Gavras in Fragen des Urheberrrechts vertritt sowie beispielsweise die Erben von Jacques Deray und Philippe de Broca. Vor große Herausforderungen stellt sie insbesondere das französische Kino der 1960er Jahre, als viele Titel von amerikanischen Majors mit-produziert wurden. Die Rechtenachfolge ist hier oft ein regelrechtes Labyrinth, weshalb selbst Kassenschlager wie »Borsalino« zeitweilig von der Bildfläche verschwinden: Die Fernsehrechte waren zwischen 1995 und 2007 blockiert, die erste DVD konnte erst 2009 erscheinen.
Als Alexander Horvath den Eröffnungsvortrag hielt, saß ich noch im Zug, aber glücklicherweise schickte er mir vor ein paar Tagen sein Manuskript. Eines der Zitate, die er der Keynote als Motto gab, eröffnete ein heikles Spannungsfeld für die gesamte Veranstaltung: Wer entscheidet, an was wir uns morgen erinnern werden? Der Begriff Restaurierung sei heute zu einem Synonym für die digitale Bearbeitung und Vermarktung geronnen. Er plädiert für die beharrliche Rekonstruktion auch historischer Vorführungsmodi. Ihm geht es um eine Überlieferungskultur, in der Filmmuseen autonom vom ideologischen und ökonomischen Einfluss der Industrie operieren und ihr auf Augenhöhe begegnen können. Mit diesem hohen, rigiden Anspruch schlug er eine Pfahl ins Fleisch auch dieses Festivals. Die digitale Bearbeitung des ersten französischen Farbfilms »La Terre qui meurt« (Der Borden stirbt) etwa ist streng genommen eine Neuinterpretation des Films, den man 1936 bei seinem Start so noch nicht sehen konnte.
Auf dem Terrain der Filmerbe-Festivals muss sich »Toute la mémoire du monde« gegen eine starke Konkurrenz behaupten. Das »Il Cinema Ritrovato« in Bologna ist quasi der Pionier, der international die größte Ausstrahlung besitzt. Auch das »Festival Lumière« in Lyon war schon vorher da, hat aber ein anderes Konzept: Das von Thierry Frémaux und Bertrand Tavernier initiierte Fest hat eine populärere Ausrichtung, da stellen Stars von heute Filme von gestern vor. Seit zwei Jahren veranstaltet die Berliner Kinemathek »Film:ReStored«, das aber bislang eher ein Arbeitsfestival war. (sie Eintrag »Nachrichten aus einem Entwicklungsland« vom 26. September 2016) Die Pariser Cinémathèque macht mit ihrem Fest eigentlich das, was es das ganze Jahr über tut – das Filmerbe zu vergegenwärtigen, mit prominenten Gästen und im Kontext von Reihen sowie Kolloquien –, nur eben in komprimierter Form. Es öffnet eine prall gefüllte Schatztruhe.
Ich war zum ersten Mal dort und hatte reichlich Anlass zu bedauern, dass es vorher irgendwie nie geklappt und gepasst hatte (der Festivaltermin verschob sich mit den Jahren immer wieder, geriet in Konflikt mit der Berlinale etc.). Zu meinen Favoriten zählte unter anderen »Une femme revée«, ein Spätlicht des Stummfilms von 1928. Die Gaumont-Produktion besticht durch seine Realschauplätze in Sevilla und Paris (ich wusste nicht, dass es im Lido seinerzeit ein Schwimmbecken gab) sowie eine dramatische Dreiecksgeschichte, die dann doch anders verläuft als man vermutet hätte. Ein wirkliches Meisterwerk ist Louis Daquins »Premier de cordée« (was so viel bedeutet wie »Der Erste der Seilschaft«, tatsächlich kam er gleich nach Kriegsende in Deutschland unter dem Titel »Ruf der Berge« heraus). Ein Bergfilm also, den Daquin komplett an Realschauplätzen um Chamonix gedreht hat. Während der deutschen Besatzung war er ein enormer Erfolg, zumal die offenbar ziemlich berühmte Romanvorlage alle Tugenden feiert, die dem Vichy-Regime teuer waren: Bodenständigkeit, Naturliebe, Familiensinn. Aber Daquin, einer der großen Kommunisten der französischen Filmgeschichte, wendet dies in eine Studie des Zweifels. Die weibliche Hauptfigur ist beeindruckend in ihrer Selbständigkeit in einer patriarchalen Welt, ihrer moralischen Souveränität.
Der Bergfilm, das vergisst man oft, war ja auch in Deutschland zeitweilig ein durchaus linkes Genre. An Stelle der Erhabenheit, die dort vorherrscht, tritt hier eine halluzinatorische Dramatik. Sophie Seydoux von der Pathé-Stiftung führte nicht nur in den bestechend restaurierten Film ein, sondern zeigte auch ein Making of, das sie gerade erst in den Archiven entdeckt hatte. Es verschlug mir den Atem zuzusehen, welche Risiken das Team beim Dreh einging. Kameramann ließ in luftiger Höhe und auf kleinstem Raum noch Schienen für Kamerafahrten anbringen, die im fertigen Film dann eine magische, beklemmende Wirkung erzielen. Ich freute mich schon auf die DVD mit tollem Bonusmaterial und merke jetzt, dass ich damit geradewegs in die Falle tappe, die Alex Horwath in seinem Vortrag beschrieben hat. In der Tat fragt man sich, welches Nachleben die aufwändigen Restaurierungen dereinst im Kino haben werden.
Die Restaurierung von Mario Bavas »Gli Invasori« (Die Rache der Wikinger) hingegen wird bald auch auf anderen Leinwänden in Frankreich zu sehen sein, als Teil einer Retro des italienischen Regisseurs. Den kannte ich noch aus meiner Schulzeit, als ich einmal die letzte Stunde schwänzte, um ihn in einer 13-Uhr-Vorstellung zu sehen. Der Name des Regisseurs sagte mir damals noch nichts, wohl aber Cameron Mitchell und die Kessler-Zwillinge, die hier wenig nordisch anmutende Tempeltänze ausführen. Ich konnte mich nur noch an die Szene mit den roten Pfeilen erinnern, die von Scharfschützen auf die Holzwand eines Turms abgeschossen wurden und mit deren Hilfe Mitchells Bruder hochklettert, um eine der Sorelle Kessler aus der Burg des Schurken zu befreien. Jean-Francois Raugier, der Programmleiter der Cinémathèque hielt eine launige Einführung. Natürlich sei dies ein schamloser Versuch gewesen, sich an den Erfolg »Der Wikinger« mit Kirk Douglas anzuhängen, mit lächerlich geringem Budget (selbst die Seeschlacht wurde im Studio gedreht). Aber Bava sei nicht nur ein großer Bildhauer, sondern auch großer Denker des Kinos gewesen. Eine Poesie der Elemente spürte Rauger in dem Film, was die Verstiegenheiten französischer Filmbegeisterung exemplarisch darlegt. Aber ich fand seine Äußerungen nicht nur sympathisch, sondern zutreffend. In der Tat ist es ein großartiger Film über die Dualität, ein Kabinettstück raffinierter szenischer und dramaturgischer Symmetrie. Mich verblüffte, wie stark die digitale Auffrischung des Films die Grobkörnigkeit des Filmmaterial bewahrte. Das war allerdings klug und die letzte Einstellung bestätigte Raugers These, Bava ziele auf eine immer größere. kühnere Abstraktion im Genrekino. Also eine Glanzstunde der Cinéphilie.
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