Retrospektive: Weimarer Kino – neu gesehen
Die Retro 2018 will, das ist der formulierte Anspruch, Filme zeigen, die »nicht als Titel 'unterhalb' des vermeintlich festen Kanons des Weimarer Kinos wahrgenommen werden, sondern als solche, die neben dem Bekannteren bestehen können.« So schreiben es Connie Betz, Karin Herbst-Meßlinger, Rainer Rother und Annika Schaefer im Vorwort der im Bertz + Fischer-Verlag erschienen Begleitpublikation. Letzteres steht außer Zweifel: Sicherlich werden die Kuratoren der Retro Filme ausgesucht haben, die heute bestehen können, auch und gerade in der Kenntnis der Weimarer Klassiker. Aber gibt es einen festen Kanon, auch nur einen vermeintlich festen Kanon? Joe May oder Gerhard Lamprecht sind eigentlich, finde ich, Regisseure mit gehöriger Reputation, Leni Riefenstahl sowieso. Sie sind in der Retro vertreten – weil ihre Filme heute vergessen sind? Damals sicherlich nicht, die waren ja erfolgreich.
Bei »Weimarer Kino – neu gesehen«: Geht es darum, vergessene Perlen wiederzuentdecken? Aber was ist »vergessen«? Beziehungsweise: Um den einen Film als tendenziell vergessen zu deklarieren, muss man ja erstmal feststellen, dass andere Filme dieser Zeit tendenziell heute jedem bekannt seien. Was nicht unbedingt der Fall ist.
Die Vielfalt des Weimarer Kinos will die Retro herausarbeiten. Ein ehrenwertes Ziel. 28 Filme wurden ausgewählt, die weniger prominenten, wie es heißt, Filme aus der zweiten Reihe. Viele von ihnen werde ich mir ansehen – einige kenne ich schon, bin gespannt auf ein Wiedersehen. Ob sich dadurch die Vielfalt erschließt? Das bleibt abzuwarten.
Einen sehr guten Überblick gibt die Publikation zur Retrospektive. Nämlich nicht nur eine Vorschau auf das, was in der Filmauswahl zu erwarten ist. Einige der Filme, die in den Essays recht ausführlich beschrieben werden, laufen nicht im Programm, »Anders als die anderen« zum Beispiel. Das ist kein Nachteil, im Gegenteil: Das Buch ist so nicht schlicht ein Buch zur Retro, sondern ein Buch zum Thema. Das Besondere des diesjährigen Retrobandes – was unbedingt fortgeführt werden sollte: Den filmhistorischen Beiträgen sind Texte beigestellt, die sich dezidiert mit einzelnen Filmen auseinandersetzen. Die Autoren hier: Filmemacher von heute, die in ihren Texten vom Entdecken dieser Filme, dieses Kinos reden. Wim Wenders zum Beispiel berichtet nicht nur von Joe Mays »Heimkehr« und Richard Eichbergs »Song«, sondern vor allem von der Begegnung mit diesen Filmen. Philipp Stölzl entdeckt erstaunt im Historienfilm »Der Favorit der Königin« von Franz Seitz sr. einen ihm bisher unbekannten Vorgänger zu seinem eigenen »Medicus«.
»Die Weimarer Republik stellt ein Laboratorium der Moderne dar, in dem zwei Vorgänge ständig ineinandergreifen: Abräumen auf Aufbauen«, schreibt Thomas Tode in seinem Beitrag zum Experimentellen im damaligen Kino, »Es geht um das Zerschlagen des Alten, das Abschneiden der alten Zöpfe und gleichzeitig um das Errichten von Neuem, den konstruktiven Aufbau neuer Strukturen.« Eine Retro über die Vielfalt des Weimarer Kinos: Da geht es natürlich auch darum, die ganze Epoche zu entdecken. Die Weimarer Zeit – erste deutsche Demokratie – in ihren vielen Facetten zu erfassen. Ob die Filme das tatsächlich leisten können?
Karin Herbst-Meßlinger, Rainer Rother, Annika Schaefer (Hrsg.): Weimarer Kino neu gesehen. 252 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 29 Euro. Verlag Bertz+Fischer, Berlin 2018.
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