Filmfestival von Venedig: Eine Hymne auf die Neugier
»Sweet Country« Foto:Mark Rogers
74. Filmfestival von Venedig: In einem starken Wettbewerbsjahrgang mussten zwangsläufig einige der besten Filme bei der Löwenvergabe leer ausgehen
Es war eine etwas andere Dankesrede, mit der Guillermo del Toro seinen Goldenen Löwen in Empfang nahm. »Ich bin 52 Jahre alt, wiege 300 Pfund und habe zehn Filme gemacht«, stellte sich der Mexikaner dem venezianischen Galapublikum vor, als müsse er sich erklären. Zwar ist sein Name in der Filmwelt alles andere als unbekannt, dennoch erscheint es für den Regisseur von Filmen wie Mimic – Angriff der Killerinsekten, Hellboy oder Blade II tatsächlich ein etwas weiterer Weg gewesen zu sein von den Niederungen des Genre- und Monsterfilms bis zu den Weihen eines Filmfestivals wie dem in Venedig.
»The Shape of Water«, der Film, für den del Toro nun den Löwen bekam, ist ein Leidenschaftsprojekt, für dessen Realisierung del Toro zehn Jahre lang gekämpft hat. Mit einer kühnen Mischung aus Horror- und Märchenelementen erzählt er darin von einer stummen Putzfrau in den späten 50er Jahren, die in den geheimen Laboren des amerikanischen Geheimdiensts einen Amphibienmann entdeckt und sich in ihn verliebt. Der Film ist zugleich nostalgische Hommage an alte Genrefilme und eine Parabel auf die Kalter-Krieg-Paranoia und den Umgang mit dem Fremden. Obwohl nicht ganz der typische »Kunstfilm«, den man auf Festivals gewöhnt ist, wurde »The Shape of Water« bei seiner Premiere auf dem Lido mit seltener Einhelligkeit vom Publikum und von der Kritik bejubelt. Dass sich die Jury unter dem Vorsitz der amerikanischen Schauspielerin Annette Bening der Begeisterung anschloss, erfüllte del Toro mit sichtlichem Stolz: Er sei der erste Mexikaner, der diesen Preis erhalte. Außerdem lesen viele den Goldenen Löwen nun als Vorzeichen für weitere Preise, schließlich gelang del Toros Landsleuten Alfonso Cuarón (Gravity) und Alejandro Iñárritu (Birdman) in den letzten Jahren vom Festival in Venedig aus der erfolgreiche Oscar-Kampagnen-Start.
Dabei hat man die These von der neuen, eigentlichen Funktion des Filmfestivals in Venedig inzwischen fast zu oft gehört: Statt wie früher das Scheinwerferlicht auf die jüngsten Entwicklungen der internationalen Filmkunst zu richten, diene die »Mostra« mittlerweile als Startrampe fürs Rennen um die Oscars. Aber es gibt sie trotzdem noch, die Festivalentdeckungen, wie etwa den iranischen Film »No date, No Signature«, der mit großer Komplexität ein Gesellschaftdrama um den Tod eines Kindes verhandelt und mit dem sich Regisseur Vahid Jalilvand als Name neben Asghar Farhadi etabliert. Oder Susanna Nicchiarellis Biopic über die Kultsängerin Nico alias Christa Päffgen. Ihr Werk Nico, 1988 spielt die letzten Lebensjahre der von Heroinsucht gezeichneten Frau nach. Als Zeitgeschichtsfilm im charmanten Sinn unbeholfen, ist es die herausragende Darstellung der Dänin Trine Dyrholm in der Hauptrolle, die daraus das ergreifende und konsternierende Porträt einer ungefälligen Frau auf der Gratwanderung zwischen Eigensinn und Sucht macht.
Zu den Wettbewerbsfilmen, die auch ohne Löwen und Oscar-Chancen in Erinnerung bleiben, gehört Abdellatif Kechiches neuer – nach »Blau ist eine warme Farbe« – Dreistünder »Mektoub, My Love: Canto Uno«, der die Geschichte eines Sommers erzählt, mit Sehnsuchts- und Liebesverstrickungen und so viel Atmosphäre und Unmittelbarkeit, dass es den Zuschauer fast körperlich mitnimmt. Oder auch Paul Schraders »First Reformed«, in dem Ethan Hawke einen Pfarrer spielt, der sich mit radikalen Umweltaktivisten und Selbstmord auseinandersetzen muss. Schrader, mit 71 Jahren ein Hollywoodveteran, dessen große Erfolge lang zurückliegen, entwirft mit geradezu protestantisch bescheidenen Mitteln ein Gewissensdrama, das an keinen geringeren als Ingmar Bergman erinnert. Die großem Menschheitsfragen verhandelt er in seinem »kleinen« Film mit einer Eindringlichkeit und einem Ernst, wie man es nur noch selten im Kino sieht.
Es sei denn im Dokumentarfilm: Der 87-jährige Regieveteran Frederick Wiseman legte mit »Ex Libris – The New York Public Library« erneut einen Film vor, der mit 197 Minuten Laufzeit und langen Szenen aus Sitzungen und Vorträgen den Zuschauer wirklich fordert. Für die, die sich der Anstrengung stellen, entpuppt sich Wisemans Film aber als eine letztlich fast zu Tränen rührende Hymne auf das Wissen und die menschliche Neugier.
Abgesehen davon, dass »First Reformed« und »Ex Libris« leer ausgingen bei der Löwenvergabe, fanden die übrigen Juryentscheidungen in diesem Jahr doch große Zustimmung: Den Grand Prix etwa erhielt der israelische Film »Foxtrot« von Samuel Maoz. Darin muss ein Vater den Tod seines bei der Armee dienenden Sohns verkraften. Für die Trauer und das Nichtfassenkönnen findet Maoz Szenen, die in ihrer verspielten Überhöhung dem Spektrum an widersprüchlichen Gefühlen Ausdruck verleihen – und zwischendurch sogar schreiend komisch sind. Dass die Auszeichnung fürs beste Drehbuch an den irisch-britischen Regisseur und Drehbuchautor Martin McDonagh für die schwarze Komödie »Three Billboards Outside Ebbing«, »Missouri« ging, deutet auf eine Jury hin, die sich in ihrem Sinn für Humor gut verständigen konnte. Auch »Three Billboards« handelt von Trauer. Frances McDormand muss als Mutter damit fertigwerden, dass ihre Tochter ermordet wurde, aber die Polizei die Täter nicht finden kann. Was der israelische Regisseur Maoz in Szenen auflöst, bringt McDonagh in seinen äußerst dicht und scharfsinnig geschriebenen Dialogen unter: Lachen als letzte Zuflucht angesichts grimmiger Realitäten.
Bei den übrigen Hauptpreisen dominierte dann wieder der Ernst: So sieht man Charlotte Rampling in Andrea Pallaoros »Hannah«, für den sie die Coppa Volpi, den Darstellerpreis bekam, kein einziges Mal lachen. Die 71-jährige Britin spielt darin die bittere Ehefrau eines überführten Täters, die Scham und Erniedrigung ertragen muss. Ein ernstes und fast regungsloses Gesicht ist auch das Markenzeichen des zum besten Darsteller gekürten Palästinensers Kamel El Basha im libanesischen Film The Insult. Der Film erzählt vom eskalierenden Streit zwischen zwei sehr stolzen Männern und den noch nicht verheilten Wunden des Bürgerkriegs im Libanon.
Den Silbernen Löwen für die beste Regie erhielt in diesem Jahr ein Debütant: Der französische Schauspieler Xavier Legrand legte mit dem Drama »Jusqu’ à la garde« seine erste Regiearbeit vor. In verhaltenen Bildern, die den Zuschauer zunächst neutral eine Sorgerechtsverhandlung verfolgen lassen, schildert Legrand einen Fall von eskalierender häuslicher Gewalt – mit großer, fast erdrückender emotionaler Wucht. Eine ähnlich eindrückliche Wirkung hinterließ auch der mit dem Spezialpreis ausgezeichnete Western »Sweet Country«. Der australische Regisseur Warwick Thronton erzählt darin von den Konflikten zwischen weißen Siedlern und Aborigenes im Outback der 20er Jahre und verhandelt das Thema Rassismus mit selten sorgfältigem Gleichgewicht unter den Figuren verschiedener Hautfarbe. Für seine eindrücklich atmosphärischen Bilder und großartigen Darsteller hätte »Sweet Country« vielleicht wie kein anderer Film des diesjährigen Mostra-Jahrgangs eine Oscar-Nominierung verdient.
Als Fazit bleibt die Feststellung, dass sich das Festival von Venedig noch immer in einem Umbruchprozess befindet, nicht nur, was Restauration und Neubau der Infrastruktur angeht, sondern auch das Programm: Man zeigt sich offen nach allen Seiten hin, in diesem Jahr wieder mit der Aufführung von Serien und vor allem mit einer eigens den Virtual-Reality-Werken gewidmeten Sektion. Aber noch ist die neue Technik mit ihren teuren Brillen eine viel zu exklusive Veranstaltung, um eine Wirkung zu entfalten, die mit einem Film wie etwa »Shape of Water« mithalten könnte.
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