Die Macht der Bilder
Der in der letzten Woche verstorbene Roger Moore wurde von vielen seiner Bewunderer auch als Verfasser amüsanter Memoiren geschätzt. Zwei davon wurden ins Deutsche übersetzt, eine weitere hat er zwei Wochen vor seinem Tod noch seinem Verleger ausgehändigt. Seinen ersten Gehversuch in dieser Disziplin unternahm er bereits im Jahr 1973; allerdings scheint sein Bericht von den Dreharbeiten zu seinem ersten Bond-Abenteuer einigermaßen verschollen, zumindest aber antiquarisch nur schwer greifbar zu sein.
Auf einer Website lässt jedoch in Auszügen erfahren, was der geneigten Leserschaft entgeht. Moore (oder sein Ghostwriter) berichtet mit der ihm eigenen Süffisanz von den Wechselfällen der Filmproduktion. Vermutlich erfährt man auch einiges darüber, wie er in die Rolle des Geheimagenten fand. In der offenbar spannendsten Anekdote jedoch kam Moore einer Verschwörung auf die Spur, die faszinierender und welterschütternder ist als jede, die Ian Fleming je ersann: die Ermordung John F. Kennedys.
Ein Teil der Dreharbeiten zu »Leben und sterben lassen« fand in Louisiana statt. In New Orleans lernte Moore unter nicht näher erklärten Umständen den Bezirksstaatsanwalt Jim Garrison kennen, der einige Jahre zuvor seine eigenen Ermittlungen zum Anschlag auf den Präsidenten aufgenommen hatte. (Kevin Costner spielt ihn in »JFK«.) Garrison lud ihn und einige FBI-Agenten ein, sich seine Ermittlungsergebnisse anzuhören und einen Film anzusehen – ob es der von Abraham Zapruder war, wird in dem beklagenswert kurzen Abschnitt in Moores Erinnerungen nicht klar. Nach dieser Audienz war er überzeugt, dass Lee Harvey Oswald nicht der einzige Attentäter gewesen sein konnte. Über genaue Details habe er Schweigen gelobt.
Wie Garrison auf die Idee kam, einen britischen Schauspieler in die brisanten Ermittlungen einzuweihen, ist mir schleierhaft. Er wird wohl schon gewusst haben, dass der einen Geheimagenten nur spielte. Aber vielleicht beherrschte Moore die Rolle des Geheimnisträgers nach wenigen Drehwochen schon überzeugend genug. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass Garrison von der Begeisterung des Präsidenten für Ian Flemings Helden wusste. Immerhin rangierte »Liebesgrüße aus Moskau« auf der Liste seiner zehn Lieblingsromane; ein seinerzeit verblüffendes Bekenntnis, das dem Ansehen des Präsidenten bestimmt ebenso zuträglich war wie dem des Autors. Der junge Amtsinhaber war aufgeschlossen: auch für die Populärkultur. Angeblich war Fleming dem Präsidentschaftskandidaten während dessen Wahlkampf begegnet, wo dieser ihn fragte, was Bond wohl gegen Fidel Castro unternehmen würde? »Ihn lächerlich machen«, soll der Romancier geantwortet haben. Auch United Artists und dem Produzentengespann Broocoli/Saltzman kam die präsidiale Empfehlung sehr zupass: Sie entschlossen sich, den Roman als zweiten Teil der Serie zu verfilmen. Angeblich war »Liebesgrüße aus Moskau« der letzte Film, den sich Kennedy im Weißen Haus vorführen ließ, bevor er die verhängnisvolle Reise nach Texas antrat.
Wenn ich am heutigen 100. Geburtstag des Präsidenten erst einmal an dessen Ermordung erinnere, tappe ich in eine ebenso gängige wie verlockende Falle: Dieses Leben will offenbar von seinem Ende her erzählt werden. Auf jeden Fall sähen die Seelenlage Amerikas und das US-Kino ohne die tödlichen Schüsse vom 22. November 1963 anders aus. Das Werk von Brian de Palma, Clint Eastwood, Arthur Penn und Oliver Stone wird heimgesucht von der Erinnerung an den Anschlag; er liefert den entscheidenden Anstoß für das Paranoia-Kino des New Hollywood, zumal für »Zeuge einer Verschwörung« von Alan J. Pakula. Gestern las ich eine französische Monographie über dessen Nachwirkungen (»26 secondes« von Jean-Baptiste Thoret, von der erstaunlicherweise noch kein keine englischsprachige Übersetzung vorliegt), die aufzeigt, wie Abraham Zapruders Aufnahmen von Dealy-Plaza zum einflussreichsten Amateurfilm überhaupt wurde. Bereits in Monte Hellman-Westerndoppel »Das Schießen« und »Ritt im Wirbelwind« hinterließ er 1966 deutliche Spuren. Auch Pier Paolo Pasolini war von Zapruders filmischem Zeugnis. Ein Film über das Attentat müsse, fordert er in seinen »Ketzerschriften«, dies aus einer Vielzahl von Perspektiven zeigen: aus der des Opfers, der Witwe, des Täters, seiner Komplizen etc. Nach und nach hat das Kino ihm tatsächlich Folge geleistet und ständig Weiterungen hinzugefügt: »Jackie« erzählt von der Trauerarbeit der beherrschten Präsidentengattin; »Jack Ruby« von dem Nachtclubbesitzer, der Oswald erschoss; »Parkland« vom Personal des Krankenhauses, in das der tödlich verletzte Kennedy eingeliefert wurde; »Love Field« von dem Entsetzen, dass die Öffentlichkeit unmittelbar danach ergreift; »In the Line of Fire« von einen fiktiven Beamten des Secret Service, der das Attentat nicht verhindern konnte und sich seither rehabilitieren will.
Ursprünglich nahm ich an, Kennedy sei der US-Präsident mit der längsten Filmographie. Eine kurze Recherche in der IMDb belehrte mich jedoch eines Besseren. Zwar liegt er mit 126 Titeln (darunter natürlich etliche TV-Dokumentationen) weit vor Nixon, Eisenhower, Truman und Wilson. Franklin D. Roosevelt übertrifft ihn allerdings mit 128 Nennungen (sein entfernter Cousin Theodore kommt immerhin auf 116) und erst recht George Washington mit 269. Der unbestrittene Favorit ist jedoch Abraham Lincoln mit 420 Einträgen. Bei meinen Nachforschungen musste ich an eine Bemerkung von Frédéric Bonnaud denken, dem jetzigen Leiter der Cinémathèque francaise. Parallel zur heißen Phase des US-Wahkampfs im letzten Herbst wollte er eine Retrospektive mit entsprechenden Filmen zeigen. Bei seinen Recherchen stellt er fest, dass mit dem Amtsantritt Roosevelts eine erste Welle von Politfilmen entsteht (Capra, La Cava etc.), die nach dessen Tod abflaut und dann erneut mit der Wahl Kennedys anbrandet. Ich erwähnte die Flut von Präsidentenfilmen, die sich während der Clinton-Ära Bahn brach und zog der Schluss, vor allem Demokraten würden Hollywood inspirieren. An diesem Punkt musste er mich korrigieren: Die habe schon unter dessen Vorgänger George Bush begonnen; außerdem brachte die Nixon-Ära schließlich das größte Konvolut an Politthrillern hervor.
Mein anfänglicher Irrtum über Kennedys Ausstrahlung auf das Kino war natürlich verständlich. Er spiegelt keinen falschen Eindruck wider, denn die Filmliste der Datenbank hat eine hohe Dunkelziffer mythischer Verweise. Und schließlich hatte sich bis dahin, mit Ausnahme von F.D. Roosevelt, kein anderer Präsident so eng mit dem Kino verbunden. Sein Vater Joseph P. Kennedy war zeitweilig als Filmproduzent tätig (er finanzierte beispielsweise Erich von Stroheims »Queen Kelly«, in dem seine damalige Geliebte Gloria Swanson die Hauptrolle spielt). Die Familie wusste um die Macht der Bilder. Als Figur taucht sein zweitältester Sohn erstmals 1957 in einem Fernsehfilm auf, der ihn als heroischen Kommandeur im Pazifikkrieg zeigt. Für Hauptrolle der Kinofassung »Patrouillenboot PT 109« von 1963 hätte John sich Warren Beatty gewünscht (es wurde dann Cliff Robertson). Auch sein Traum, der 13 Jahre ältere Cary Grant würde ihn einmal auf der Leinwand verkörpern, erfüllte sich zwar nie (womit wir wieder bei Bond gelandet wären, denn Grant war ja ebenfalls Ian Flemings Wunschbesetzung), verrät aber, welches Selbstbild eleganter, humorvoller Virilität der Präsident hegte.
Auch zu seinem knappen Wahlsieg trug das Kino maßgeblich bei. Er verpflichtete Arthur Penn, der damals allerdings noch hauptsächlich für die Bühne und das Live-Fernsehen arbeitete, als Berater für seine Kampagne. Die TV-Debatte mit Nixon (übrigens die erste überhaupt) konnte Kennedy nicht zuletzt deshalb für sich entscheiden, weil Penn im Regieraum auf Großaufnahmen seines blenden aussehenden Kandidaten bestand. Der Bartschatten seines Widersachers hinterließ einen verheerenden Eindruck beim Publikum.
Einmal ins Amt gewählt, hielt er engen Kontakt zur Filmbranche. Er ermutigte, stieß Projekte an, sein Stab räumte Hindernisse aus dem Weg, damit brisante Politthriller wie »Botschafter der Angst« und »Sieben Tage im Mai« entstehen konnten. Die Nähe zu Hollywood muss er nicht suchen, sie entsteht selbstverständlich. Sein Schwager Peter Lawford gehört zu Frank Sinatras Ratpack. In diesem neuen Camelot begegnen sich Ikonen der Epoche auf Augenhöhe, sonnten sich im gegenseitigen Ruhm. Jackie Kennedy war die kongeniale Zeremonienmeisterin, um Gegenwart und Zukunft des Mythos' zu garantieren.
Sinatra war übrigens bald ein nicht mehr ganz so gern gesehener Gast, da er eng mit Sam Giancana verbandelt war und Kennedy die Rolle der Mafia als Wahlkampfspender gern ausblenden wollte. Vergessen wir nicht, dass ihm zunächst keine großen Chancen eingeräumt wurden, weil noch nie zuvor ein Katholik zum US-Präsidenten gewählt worden war. Ich vermute, die Verehrung, die ihm in den Jahrzehnten nach seinem Tod zuteil wurde, beruht nicht nur auf dem Bild eines politischen Idealisten von hoher Moral. Er verkörperte den Aufbruch in eine liberalere Epoche. Wurde die Öffentlichkeit wirklich so sehr überrascht von den posthumen Enthüllungen seiner Affären? Zu dem Einverständnis, von dem seine Präsidentschaft getragen wurde, gehörte vielleicht auch die Ahnung, dass Kennedy ein Hedonist und Schürzenjäger war. Auch in dem Punkt gewann er den Kampf um die Öffentlichkeit. Happy Birthday, Mr. President!
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