Kritik zu Sparrows
Der zweite Film des Isländers Rúnar Rúnarsson (»Volcano«) gewann im letzten Jahr die Goldene Muschel des Filmfestivals von Donostia / San Sebastián und vor kurzem den Preis des Frankfurter Kinder- und Jugendfilmfestivals Lucas. Das ist verdient, denn hier stimmt inhaltlich und stilistisch alles
Es ist das Licht, das »Sparrows« seine spezielle Atmosphäre gibt. Es gibt dem Film einen blaugrau-milchigen Überzug. Und es leuchtet gnadenlos, Tag wie Nacht. Die Uhrzeit ist kaum auszumachen, ebenso wenig das Vergehen von Zeit. Nichts strukturiert die Tage, abgesehen vielleicht vom Arbeitsbeginn. Das erzeugt in diesem Film ein permanentes Gefühl des Ausgesetztseins für die Figuren, die irgendwie keine Orte zum Rückzug haben – überall scheint das Licht hinein.
Und der 16-jährige Ari (Atli Óskar Fjalarsson) fühlt sich ausgeliefert. Seine Mutter (die man im Film nur von fern sieht) hat ihn vom städtischen Reykjavík in den Nordwesten Islands verfrachtet. Es ist die Zeit um Mittsommernacht. Die Mutter geht für ein paar Jahre nach Afrika, für ein humanitäres Projekt, wie man annehmen muss, zusammen mit ihrem zweiten Mann.
Zu Beginn des Films sieht man Ari mit einer hohen Stimme in einem Kirchenchor singen, unter dem Dach einer gewaltigen Kirche. Alle tragen Weiß, die Farbe der Unschuld. Ari hat seine Kindheit in diesem Dorf im Nordwesten verbracht, aber seine Bindung ist nicht mehr so groß. Er versteht die Entscheidung seiner Mutter nicht, einmal ruft er sie verzweifelt an.
Rúnarsson verzichtet darauf, Aris Leben vorher zu zeigen, den Gegensatz zwischen Stadt und Land auszuspielen. Aber wir merken auch so, wie Ari sich fühlt, wenn er vor dem Flugplatzterminal im Look der sechziger Jahre steht, das in etwa die Größe eines Sportflughafens hat. Und das Verhältnis zu seinem leiblichen Vater ist auch ziemlich unterkühlt. Auf der Fahrt nach Hause versucht der Vater, Konversation zu betreiben, fragt den Sohn nach dem Flug, erzählt etwas von einem neuen Tunnel. Die Dialoge sind in »Sparrows« immer nur spärlich eingesetzt, eine große Bedeutung haben sie nicht.
Aris Vater Gunnar (Ingvar E. Sigurdsson) hat seinem Sohn einen Job in der Fischfabrik besorgt, offensichtlich der Hauptarbeitgeber des kleinen Städtchens, dem das Zentrum fehlt und das nur aus vereinzelten Häusern zu bestehen scheint. Gunnar hat in und vor der Wirtschaftskrise so gut wie alles verloren, sein Fischerboot, das Haus, in dem er mit seiner Familie lebte. Aber »Sparrows« ist kein Film über die Auswirkungen der Finanzkrise. Wir merken, dass auch Gunnar mit seinen Saufgelagen mit seinen Freunden nicht unschuldig ist an seiner Lage. Jeden Nachmittag geht er zum Tee zu seiner Mutter, ein regressiver Akt, zurück in die eigene Kindheit.
Und diese Großmutter bedeutet für Ari so etwa wie einen Halt, eigentlich seine einzige Bezugsperson. Aus seiner Kindheit kennt er noch Lara. Die ist mittlerweile mit dem rüpelhaften und eifersüchtigen Einar zusammen, man spürt aber die Nähe zwischen Lara und Ari. Es ist nicht so, dass Ari keine Freunde hätte, in der Fischfabrik lernt er einen Gleichaltrigen kennen und freundet sich mit einem älteren Kollegen (Rade Serbedzija) an. Aber er bleibt ein Außenseiter in dieser kleinen Gemeinschaft, in der die Jungs mit BMX-Rädern und ihren Mädchen hinten drauf durch die Straßen fahren.
Rúnarsson und seine Kamerafrau Sophia Olsson bleiben in diesem Film aber zurückgenommene Beobachter. Sie verzichten auf Kamerafahrten und Mätzchen und setzen Schwenks auch nur sehr sparsam ein. Sie vertrauen auf die Erzählkraft des von ihnen gewählten Bildausschnitts – halten aber auch nie so lange drauf, wie wir das von der »Berliner Schule« her kennen. Und die berühmte nordische Lakonie kommt auch nicht zum Tragen – wenn, dann nur en detail, etwa wenn Gunnar ein Auto repariert, indem er es mit einem Gabelstapler hochhebt.
Einmal, als Ari es nicht mehr aushält, wandert er die Berge hoch, an deren Hängen selbst in der Mitte des Sommers noch Flecken von Schnee liegen. Es ist eine majestätische Landschaft, aber ganz karg, ohne Bäume. Vor ihr nehmen sich die Menschen und ihre Häuser nur wie kleine Punkte aus, wie Fremdkörper. Als Aris Großmutter stirbt, wird sie auf einem Friedhof bestattet, der mehr einem Gräberfeld gleicht. Es liegt in einem Tal, und die grünbraunen Berge scheinen die Menschen förmlich zu erdrücken.
Mit dem Tod der Großmutter gerät Aris Leben endgültig außer Kontrolle. Und das seines Vaters auch. Es gab Versuche der Annäherung zwischen beiden, einmal hat Gunnar seinen Sohn zum eher rustikalen Vergnügen einer Robbenjagd vom Meer aus mitgenommen, aber nach der Beerdigung wird aus der Trauerfeier eine seiner gewohnten Partys. Ari singt in der kleinen Kirche mit dem aufgebahrten Sarg, es ist vielleicht auch so etwas wie eine Geste der Zugehörigkeit zu der kleinen Gemeinde mit ihren rauen Menschen. Aber dann kommt der Absturz. Ari trifft mit seinem Freund auf Lara, die mittlerweile Einar verlassen hat, sie trinken, kiffen und werfen auf einer Erwachsenenparty auch Pillen ein. Was folgt, ist eines der bösesten Filmenden aller Zeiten. Ari trifft eine Entscheidung, die sein Leben verändern und ihn immer mit einem fatalen Geheimnis belasten wird. Die Zeit seiner Jugend und seiner Unschuld ist endgültig vorbei.
Das klingt vielleicht nach einem konventionellen Coming-of-Age-Film, als der »Sparrows« ja auch durchaus daherkommt. Aber er ist noch viel mehr, ein existenzielles Drama über das Geworfensein in eine fremde Welt, eine durchaus subtil erzählte Vater-Sohn-Beziehung, ein stilistisch geschlossener, ruhig erzählter Film, bei dem alles passt. Das alles macht diesen kleinen Film vom Ende der Welt zu einem der herausragenden Ereignisse im ausgehenden Kinojahr 2016.
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