Der Clown und die moralische Unruhe

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Vor anderthalb Wochen, als ich etwas Zeit zwischen zwei Vorführungen in der Cinémathèque hatte, musste ich noch einmal an Pierre Étaix denken. Im Parc de Bercy wurde ich Zeuge eines kleinen Auftritts, der ihm zweifellos gefallen hätte. Am gegenüberliegenden Ufer des Teichs, an dem ich mich mit meinem Notizblock niedergelassen hatte, entdeckte ich eine junge, grazile Frau, die zutrauliche Enten und drängelnde Tauben fütterte. Neben ihr im Gras lag ein schwarzweiß gestreifter Reifen und ich war gespannt, was sie mit ihm anfangen würde.

Erst vermutete ich, sie würde ihn wohl wie einen Hula-Hoop-Reifen um die Hüften kreisen lassen. Doch dazu waren diese zu schmal. Und eigentlich hätte mich ihr Gesicht sofort auf eine andere Idee bringen müssen, denn es erinnerte an einen Pierrot. Nach der Fütterung nahm sie nun den Reifen und ließ ihn immer schneller um ihr Handgelenk kreisen. So unterschiedliche Bewegungen sie ihm auch entlockte, musste sie ihn doch nie mit den Händen greifen. Er schien Teil ihres Körpers zu werden, eine fünfte Gliedmaße. Mit einer entschlossenen Geste ließ sie ihn weit in die Höhe schnellen und fing ihn sicher wieder auf. Fürwahr, eine echte Akrobatin! Als sie nach ein paar Minuten eine Pause machte, applaudierte ich ihr sacht. Sie nickte mir wortlos zu, doch ich hatte das Gefühl, sie gestört zu haben. Ihr Spiel war ganz selbstvergessen gewesen, ihre Freude am Gelingen brauchte kein Publikum. Ich fürchte, mein Klatschen, so diskret es auch war, hatte den Zauber des Augenblicks gebrochen.

In Étaix' Komödien, die seine Liebe zum Zirkus ins Kino übersetzen, entsteht die Komik weniger aus der Tücke des Objekts, sondern aus den Verwendungsmöglichkeiten der Requisiten. In »Yoyo« gibt es eine tolle Sequenz, die auch von der Freude am Gelingen handelt. Bei ihm stehen  Ihr Held, ein nach der Wirtschaftskrise von 1929 verarmter Milliardär, der im Zirkus ein ungekanntes Glück gefunden hat, sitzt am Steuer seines Hispano Suiza. Als ihn die Lust befällt, seiner Frau einen Kuss zu geben, überlässt er seinem Sohn kurzzeitig das Steuer, klettert auf das Dach des Wohnwagens und küsst seine hinten auf der Veranda wartende Gattin. Als er zurückkehren will, verfängt er sich jedoch in einem Ast. Es trifft sich allerdings prächtig, dass gerade ein Bauer vorbeikommt, auf dessen Heuwagen er seine Familie überholen kann, um sogleich wieder mit Schwung ans Steuer zu springen. Bewundernd richtet sein Sohn den Daumen auf angesichts solch eleganter Akrobatik. Mit einem zauberhaft unbescheidenen Achselzucken hebt Etaix die Handflächen, um zu sagen: »Nicht der Rede wert. Gekonnt ist gekonnt!«

Étaix hätte die junge Frau vielleicht angesprochen. Er war ein großer Bewunderer und auch Förderer: Zusammen mit seiner ersten Frau Anne Fratellini gründete er in Frankreich die Nationale Zirkusschule. Zu diesem Zeitpunkt war seine Karriere als Regisseur schon vorüber, die kaum mehr als ein Jahrzehnt dauerte, aber einige der charmantesten Etüden visuellen Erzählens hervorbrachte. Danach blieben seine Filme wegen Streitigkeiten um die Rechte eine halbe Ewigkeit lang unsichtbar. Als ich Anfang der 90er in einem kleinen Kino in St.Germain »Auf Freiersfüßen« sah, war das bestimmt eine illegale Vorführung. Er wurde zu einem Rätsel, das mich verfolgte. 2009 gewannen er und sein Co-Autor Jean-Pierre Carrière den Prozess gegen die Produktionsfirma, die auf dubiose Weise die Rechte an sich gerissen hatte. Ich begleitete ihren Kampf mit mehreren Artikeln für »Die Welt«, wo ich Jahre später endlich auch über die Wiederaufführung seiner Filme schrieb, die leider nicht ganz so triumphal ausfiel, wie der Regisseur und sein Co-Autor gehofft hatten. Kurz darauf interviewte ich Jean-Pierre Jeunet, der nicht nur ein großer Bewunderer von Étaix ist (er hat einen kurzen Auftritt in "Micmacs"), sondern auch sein Nachbar in Montmartre war. Von ihm erhielt ich dessen Mail-Adresse, die später von großem Nutzen sein sollte, als das Berliner Kino »Brotfabrik« eine Retrospektive und Ausstellung seiner Zeichnungen plante. Aus völlig idiotischen Gründen bin ich dem großen Clown jedoch nie begegnet. Die Nachricht von seinem Tod erwischte mich am letzten Freitag kalt.

Am Tag zuvor hatte ich durch Zufall entdeckt, dass ein kleines Kino in St. Germain ganz rasch drei Filme von Andrzej Wajda ins Programm genommen hatte. Diese Geste unmittelbarer Cinéphilie bereitete mir einen wehmütige Genugtuung. Auch Wajdas Tod kam aus heiterem Himmel. Vor ein paar Wochen erst, als ich zum ersten Mal »Die unschuldigen Zauberer« sah (siehe meinen Eintrag »Ausgelassene Melancholie« vom 8. September), nahm ich mir vor, mich wieder eingehender mit ihm zu beschäftigen. Die Bestände der Berliner Videotheken hatte ich schon daraufhin durchsucht. Vor allem freute ich mich auf »Die Mädchen von Wilko«, aber auch die Wiederbegegnung mit seiner Kriegstrilogie wäre keine Pflichtübung gewesen. In der letzten Woche sind einige vorzügliche Nachrufe erschienen (besonders der in der »Frankfurter Rundschau« verblüffte mich wegen seiner zugeneigten Kenntnis des Frühwerks. Vielleicht wurde nicht genug herausgestrichen, wie entschieden er sich die Perspektive weiblicher Heldinnen zu eigen machte, namentlich in »Der Mann aus Marmor«, »Der Mann aus Eisen«, »Katyn« und »Tatarak«. Nirgendwo fand ich übrigens so viele Artikel wie in »Le Figaro« (für die konservative Presse im Westen war ein widerständiger Filmemacher wie er natürlich ein gefundenes Fressen). Einer bewegte mich besonders. Darin ging es um die Entstehung von »Der Mann aus Eisen«. Er habe nie eine Auftragsarbeit angenommen, wird er zitiert, mit dieser einen Ausnahme: Die Werftarbeiter in Gdansk hatten ihn aufgefordert, einen Film über sie zu drehen; ein Mandat, das er ohne Zögern übernahm.

Wajda war ein wachsamer Beobachter des Alltags aus Zeitzeugenschaft. Étaix war es aus unbeschwerter Neugier. Sein Mandat war es, dem Slapstick in Frankreich eine ungekannte Noblesse zu verleihen. Darüber hinaus verbindet den großen Clown mit dem Protagonisten des polnischen Kinos der Unruhe nicht viel mehr als der Umstand, dass sie Oscar-Preisträger waren und wiederholt mit Carrière arbeiteten. Im Falle von Wajda war die Auszeichnung, wie man so gern sagt, längst überfällig: Er war bereits viermal nominiert worden, bevor er 2000 einen Oscar für sein Lebenswerk erhielt. Im Fall von Étaix hingegen war sie eine erfreuliche Überraschung. Bereits 1963 gewann er die Trophäe für seinen zweiten Kurzfilm »Heureux Anniversaire«. Als ihm 2011 der Ehrenoscar verliehen wurde, fand er das beeindruckend, aber auch etwas übertrieben. Die Reise nach Los Angeles unternahm er nicht zuletzt, um seinen alten Freund Jerry Lewis zu besuchen. Das Werk der Verstorbenen hat unterschiedliches Gewicht in der Filmgeschichte. Aber die Trauer ist an solche Hierarchien nicht gebunden. 

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