Kritik zu Julieta

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Pedro Almodóvar kehrt zum Thema Mütter zurück und lässt Emma Suárez eine Frau spielen, die vor Jahren von ihrer Tochter verlassen wurde und nun noch einmal eine Anstrengung unternimmt, sie zu verstehen und vor allem wiederzufinden

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Das Geheimnis der Ägypter, so sagt man, ist so geheim, dass die Ägypter selbst es nicht kennen. So verhält es sich auch mit dem Geheimnis der Mütter. Gut sechzehn Jahre nach seinem formvollendeten Melo »Alles über meine Mutter« schlägt Pedro Almodóvar ein neues Kapitel über dieses Kernthema seines filmischen Schaffens auf. Julieta (Emma Suárez), Dozentin für klassische Literatur an der Uni Madrid, befindet sich auf dem Sprung nach Portugal, als sie durch die zufällige Begegnung mit einer alten Bekannten erstmals seit zwölf Jahren etwas von ihrer verschollenen Tochter erfährt. Ohne Erklärung kehrt Julieta ihrem langjährigen Lebenspartner den Rücken, um in einer alten Wohnung, in deren Nähe sie zuletzt mit Antía lebte, ihre Erinnerungen zu sortieren: Warum nur wurde die Witwe damals von ihrer erwachsenen Tochter ohne eine Erklärung verlassen?

Die Antwort auf diese Frage verpackt Almodóvar einmal mehr in einen artifiziell verschachtelten Plot. Wie schon in früheren Werken wandelt er dabei eine literarische Vorlage ab. Diesmal greift er drei unzusammenhängende Kurzgeschichten der Literatur-Nobelpreisträgerin Alice Munro über eine depressive Frau auf, um sie zu einem Almodóvar-Plot zu verweben. Die dabei entstandene Geschichte erscheint, wie so häufig, während des Zusehens federleicht. Wenn einem die Nacherzählung sperrig und konstruiert vorkommt, so liegt dies daran, dass der »eigentliche« Plot nur ein MacGuffin ist.

Ein zerrissenes Foto und ein via Off-Kommentar gesprochenes Tagebuch: Mit diesen konventionell erscheinenden Mitteln erzählt Almodóvar, wie seine Heldin Julieta (als junge Frau von Adriana Ugarte gespielt) den galizischen Fischer Xoan (Daniel Grao) kennenlernt und in seinem malerischen Haus am Meer eine Tochter großzieht. Als sie erfährt, dass er sie mit ihrer besten Freundin betrügt und sie ihn zur Rede stellt, sticht er in See und ertrinkt im Sturm.

So zusammengefasst, klingt das nach einem Degeto-Film. Erst beim näheren Hinsehen wird klar, dass die behauptete Zweisamkeit der Kleinfamilie fast völlig ausgeblendet wurde. Während heterosexuelle Männer bei Almodóvar wie üblich ein schattenhaftes Dasein fristen, wird die Heldin – als junge Frau und als Mutter – von zwei verschiedenen Darstellerinnen verkörpert. Diese Spaltung korrespondiert mit einer Geschichte hinter der Geschichte, die mittels ineinander gespiegelter Subplots erzählt wird. In dem einen hadert Julieta mit ihrem Vater, weil der seine demenzkranke Frau wegschließt, um deren junge Pflegerin zu schwängern, im anderen trifft sie in einem leeren Eisenbahnabteil einen seltsamen Fremden, der ihr seltsam nahe kommt. Der ältere Mann, geisterhaftes Echo der Vaterfigur, wirft sich kurz darauf vor den Zug. Durch das Fenster des Speisewagens, in den Julieta unterdessen flüchtete, ist ein Hirsch zu sehen, der in der nächtlichen Schneelandschaft neben den Schienen herläuft. Mit dem Fischer Xoan, den Julieta in diesem magischen Moment kennenlernt, zeugt sie noch in derselben Nacht jene Tochter – die ihr später so viel Schmerz bereiten wird.

Die über Bande zusammengefügten Erzählfragmente – traumartig, surreal und zugleich völlig unverdächtig – lassen den Plot einer Seifenoper unmerklich in eine psychoanalytisch anmutende Falldarstellung kippen. Die Assoziationen um Inzest, Tod, Fruchtbarkeit und Zeugung sind in sich verdreht wie ein Rubik-Zauberwürfel, auf dem sich erst allmählich ein Muster abzeichnet. Unmöglich, dieses sublime Gespinst nach nur einer Sichtung zu durchdringen. Almodóvar hat schon darüber sinniert, ob er den Zuschauern Freikarten zukommen lässt, damit sie seinen Film mehrfach sehen. Skeptiker wird das nicht umstimmen. Wer aber die seelischen Schachspiele des Mannes aus der Mancha mag, wird angenehm überrascht sein, wie Almodóvar hier auf vertrautem Terrain neue Akzente setzt.

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