Kritik zu Tangerine L.A.
Das Erste, was man über Sean Bakers im vergangenen Jahr mit Festivalpreisen von Rio bis Karlovy Vary überhäufte Indiekomödie liest, ist stets, dass sie auf iPhones gedreht wurde. Dabei sieht man ihr das nicht mal an
Ist es übertrieben, von einem kleinen Kinowunder zu sprechen? Mag sein, doch »Tangerine L. A.« – der nun ein Jahr nach dem US-Start doch endlich noch die deutschen Kinos erreicht – ist in so vieler Hinsicht ein so besonderer Film, dass alles darunter kaum angebracht scheint.
Da ist zum einen die technische und damit einhergehend auch visuelle Seite, hat doch Regisseur Sean Baker (der in Independentkreisen bereits mit Low-Budget-Filmen wie »Starlet« oder »Prince of Broadway« für Aufsehen gesorgt hatte) den kompletten Film ausschließlich mit dem iPhone als Kamera gedreht. Was klingt wie der Alptraum jedes altmodischen Cineasten, entpuppt sich als bemerkenswert gelungenes Experiment. Denn Baker und Kameramann Radium Cheung nutzen das Telefon nicht nur für Momente von größter Intimität und eine raue Authentizität. Ihnen gelingen ebenso – auch dank nachträglicher Farbbearbeitung – geradezu träumerische Aufnahmen jener wenig glamourösen Ecken Hollywoods südlich des »Walk of Fame«, die hier bisweilen in bildbandtauglichem Licht schillern.
Doch zum anderen sind es eben auch die Geschichte und vor allem ihre Protagonisten, die »Tangerine L.A.« (der Zusatz »L.A.« für den deutschen Markt hat übrigens rechtliche Gründe) zu einer Ausnahmeerscheinung in der Kinolandschaft machen. Viel Plot gibt es dabei nicht: Einen Tag lang folgen wir den beiden transsexuellen Prostituierten Sin-Dee (Kiki Rodriguez) und Alexandra (Mya Taylor) sowie dem aus Armenien stammenden Taxifahrer-Freier Razmik (Baker-Veteran Karren Karagulian) an Weihnachten durch den Alltag rund um die Kreuzung Santa Monica Boulevard und Highland Avenue. Es geht um Eifersucht, weil Sin-Dee die Frau auftreiben will, mit der ihr Freund und Zuhälter sie betrogen haben soll. Es geht um Träume, denn abends wird Alexandra in einer Bar als Sängerin einen Auftritt versuchen. Und nicht zuletzt geht es um Freundschaft.
Dass jenseits der Nische des Queer Cinema – der Baker als heterosexueller Filmemacher fraglos nicht zuzuordnen ist – ein Kinofilm mit großer Selbstverständlichkeit zwei transsexuelle Protagonistinnen ins Zentrum stellt, ist nach wie vor außergewöhnlich. Noch exzeptioneller erscheint, dass Baker dabei nicht nur ohne den manierierten Kitsch auskommt, durch den sich etwa »The Danish Girl« auszeichnete, sondern auch auf jede Art von »straight-washing« verzichtet – und mit Rodriguez und Taylor tatsächlich zwei Transgender-Darstellerinnen besetzte.
Mit ihrer überbordenden Energie verhelfen die beiden, die hier zum ersten Mal vor einer Kamera standen, dem Film zu einer wuchtigen Wahrhaftigkeit. Doch auch Baker selbst sorgt dafür, dass »Tangerine L.A.« aufregender und frischer daherkommt, als man es vom amerikanischen Indiekino zuletzt gewohnt war. Trotz der Härte seines Milieus verwandelt er seine Geschichte letztlich in eine Screwball-Komödie: Der wohnt zwar eine große Tragik inne, aber am Ende obsiegt doch die Lebensfreude. Und das ist, wenn schon kein Wunder, dann doch mindestens wunderbar.
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