Cannes 2016: »Toni Erdmann«
Das Aufatmen war groß, als im April bekannt wurde, dass mit Maren Ade nach langen Jahren endlich wieder ein deutsches Regietalent im Wettbewerb um die Goldene Palme vertreten sein würde. Chancen auf eine Auszeichnung rechnete man sich kaum aus; das bloße Dabeisein galt erst mal als genug. Doch nun ist Ade etwas gelungen, von dem jeder Filmemacher und jedes Filmland träumt: Sie hat mit ihrem Vater-Tochter-Drama »Toni Erdmann« Cannes im Sturm erobert. Ihr zugleich zum Lachen und zu Tränen herausfordernder Film über eine im Grunde völlig alltägliche, entfremdete Eltern-Kind-Beziehung berührt zutiefst und wurde vom Publikum in Cannes mit jener Art heftigem Applaus bedacht, der einen Film als palmenverdächtig qualifiziert.
In »Toni Erdmann« spielt der 69-jährige österreichische Schauspieler Peter Simonischek die Titelfigur. Wobei »Toni Erdmann« lediglich das Pseudonym des geschiedenen, pensionierten Klavierlehrers ist, ein groteskes Alter ego, in das er sich mit falschen Zähnen und schlecht sitzenden Perücken in willkürlich gewählten Momenten mehr zum Schrecken als zum Amüsement seiner Umgebung verwandelt. Sein eher haltloses Treiben zwischen der Sorge um seine alte Mutter und die um seinen altersschwachen Hund wird kurz unterbrochen durch den Besuch seiner Tochter (Sandra Hüller), die als taffe Unternehmensberaterin in Bukarest arbeitet. Dass sie sich wenig zu sagen haben, scheinen sowohl Vater wie Tochter schon lange akzeptiert zu haben. Trotzdem bricht der Vater, als sein braver Hund schließlich das Zeitliche segnet, zu einem Spontanbesuch nach Bukarest auf. Sowieso schon Störfaktor, bringt er dort das Leben seiner ehrgeizigen Tochter mit Auftritten als Toni Erdmann zusätzlich durcheinander.
Das Faszinierende an Ades Film ist, wie er das absolut Gewöhnliche in eine Erzählung verwandelt, die von schreiend komischen Momenten zu depressiver Melancholie und zurück wechselt. Trotz Überlänge in keiner Sekunde langweilig, greift der Film scheinbar im Hintergrund eine Vielfalt an Themen auf, vom modernen Kapitalismus über die Probleme der Karrierefrau bis zu Burn-out und Anpassungstörung, und bleibt dabei stets atemberaubend präzis, ohne je überladen zu wirken. Beide Hauptdarsteller, Simonischek und Hüller, tun ihr Übriges dazu mit großartigen, fein abgestimmten, fesselnden und selbst in der Dialogarmut noch ungeheuer beredten Auftritten als ungleiches Vater-Tochtergespann. Am Ende entdecken die beiden Ähnlichkeiten aneinander, die sie nie wollten, und finden überraschenden Trost dabei. »Toni Erdmann« ist das rare Kunststück eines zugleich ungeheuer unterhaltsamen und komplexen psychologischen Drama unserer Gegenwart.
Dementsprechend wurde kein anderer Film in Cannes bislang mit derart ungeteilter Zustimmung aufgenommen. Maren Ade, die gleich in mehrfacher Hinsicht als absolute Außenseiterin bei diesen 69. Filmfestspielen antrat, sieht sich mithin über Nacht in die Favoritenrolle gehoben. Sollte am Ende tatsächlich eine Palme herausspringen, könnte Ade gleich mehrerer Hinsicht Rekorde brechen: als erste deutsche Regisseurin seit Wim Wenders' Goldener Palme für »Paris, Texas« 1984 und als erst zweite Frau in der Geschichte von Cannes nach Jane Campions Gewinn 1993 mit »The Piano«. Noch mag ihr »Dark Horse«-Status als Neuling unter den Palmenbewerbern dagegensprechen, zusätzlich belastet von der Überlänge des Film von fast drei Stunden und zwei Hauptdarstellern, die im deutschsprachigen Raum unter Theatergängern Legende sind, aber kaum als Kassenmagneten gelten. Ades kleinem, großem Film aber traut man fast die Überwindung dieser »Odds«/Gegenchancen jetzt auch noch zu.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns