Kritik zu Der Junge und die Welt
Einen Preis auf dem Festival von Annecy zu gewinnen ist im Genre der Animation wie ein Ritterschlag. Alê Abreus poetischer Kinderfilm gewann gleich zwei, den Großen und den Publikumspreis – beide verdientermaßen
Seine Augen sind nur zwei dünne, senkrechte Striche in seinem kugelrunden Gesicht, aber die Schaulust des kleinen Jungen ist gewaltig. Sie schleudert ihn atemlos von einer Szenerie in die nächste. Mit jedem Bild wird er in eine andere Welt katapultiert, die es rasch zu erkunden gilt.
Allein schon die Umgebung des Hauses, in dem er auf dem Land mit seinen Eltern lebt, ist für den Knirps eine unerschöpfliche Wunderkammer. Welche magischen Eindrücke wird der Rest der Welt erst für ihn bereithalten? Der Auftakt dieses brasilianischen Animationsfilms stellt eine Kaskade der Verzückung in Aussicht. Damit gibt er kein leeres Versprechen aus. Aber der Anlass und die Entdeckungen der Reise, auf die sich der Junge begibt, sind in eine tiefe Wehmut getaucht. Eines Tages muss der Vater das karge Zuhause verlassen, weil er dort den Lebensunterhalt der Familie nicht mehr verdienen kann. Ratlos wandert der Blick des Sohnes zwischen den Schatten, die seine Mutter und der Vater beim Abschied werfen; verzweifelt umklammert er das Bein des Abreisenden, den sogleich der Zug in eine unbekannte Ferne entführen wird.
Die Trauer des Jungen ist zu groß, als dass er hier zurückbleiben könnte. Kurzentschlossen folgt er dem Vater. Die weite Welt, in die er sich beherzt hinauswagt, steckt voller wundersamer Zeichen und Schrecken. Er lernt, rasenden Lastwagen auszuweichen, erklimmt Berge und übersteht Taifune. Wie gut nur, dass er auf seiner Reise immer wieder auf Gefährten trifft, Tiere und Menschen, die ihn behüten! Aber was ihm widerfährt, ist nicht nur rätselhaft, sondern auch verstörend. Sein Parcours führt ihn durch die globalisierte Arbeitswelt, von der Baumwollernte über eine Weberei in die furchterregende Großstadt, von der es ihn sodann als blinden Passagier eines Containerschiffs in futuristische Sphären verschlägt. Die agrarische und die urbane Welt sind in Alê Abreus Film unvereinbar. Die Baumwollpflücker und Weber, an deren Karneval der Junge staunend teilnimmt, werden bald von Maschinen ersetzt. Beim Arbeitskampf lassen die Industriebosse aus schweren Geschützen auf sie feuern. Nur die Melodie, die der Vater vor dem Abschied auf der Blockflöte für ihn spielte, spendet dem Jungen noch Trost.
Diesen Kreuzweg setzt Abreu in ein Kaleidoskop der Verwandlungen um. Die beiden Titelfiguren seines ornamentenreichen Films scheinen eins zu sein, in dem kleinsten Flecken kann sich ein ganzes Universum verbergen. Eingangs mutet der Zeichenstil kindlich an, ein paar Striche und Farbkleckse genügen ihm. Sie sind der Anfang einer fulminanten visuellen Assoziationskette, die in einen zusehends komplexeren Animationsgestus mündet – einmal fängt gar das Bild Feuer und legt dokumentarische Aufnahmen von Brandrodungen frei –, um schließlich voller Schwermut zum ursprünglichen Minimalismus zurückzukehren. Die Melodie des Vaters jedoch, die der Junge einst in einer Büchse vergrub, ist noch in ihrem Versteck, als der nunmehr Erwachsene sie sucht.
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