DOK.fest München 2022
Hauptpreis: »Trenches« von Loup Bureau
Endlich wieder Kino: Nach zwei fast ausschließlichen Onlineausgaben konnte das DOK.fest München in diesem Jahr in seine Partnerkinos zurückkehren
Blicke ins Niemandsland. Ausheben neuer Gräben. Endlose Tage des Wartens im Unterstand. Und dann die Angst, wenn die Granateinschläge näher kommen. Hat man den Beschuss schließlich überstanden, gilt es zu antworten: Auge um Auge, Granate um Granate. – In Loup Bureaus Film »Trenches« meint man immer wieder, sich im Stellungskrieg an der Westfront im Ersten Weltkrieg zu befinden, auch wegen des zeitlosen Schwarz-Weiß der Bilder. Spielen die Soldaten dann »Call of Duty«, wird man plötzlich erinnert: Das ist heute. Beziehungsweise: Das war noch vor wenigen Monaten so. Denn Russlands Überfall auf die Ukraine hat an der Donbass-Front alles verändert. Und manche der ukrainischen Soldaten, mit denen Bureau vier Monate im Schützengraben verbrachte, sind inzwischen nicht mehr am Leben. »Trenches«, überraschender, doch hochverdienter Gewinner des Hauptpreises des DOK.fest München 2022, ist ein zutiefst bewegender Film, gerade weil er so nüchtern einen Frontalltag voller Absurdität und Schrecken zeigt.
Der Krieg in der Ukraine war Thema gleich mehrerer Filme des Festivals, und immer wieder fragte man sich unwillkürlich: Wo sind die Protagonist*innen wohl heute? Pushing Boundaries, ausgezeichnet mit dem Megaherz Student Award, zeigt fünf Sportler*innen des paralympischen Teams der Ukraine, die mit der Krim-Annexion 2014 über Nacht ihr neues Trainingszentrum verloren, ihre Medaillenträume aber weiterverfolgen. Der Kurzfilm »Donbas Days« porträtiert einen jungen Tschechen, der in Frontnähe lebenden Kindern Jonglierunterricht gibt, und fragt nach seinen Motiven, das Kriegsgebiet dem sicheren Leben in Prag vorzuziehen. In »A House Made of Splinters« ist der Krieg nur im Hintergrund präsent, gleichwohl hallen seine Zerstörungen in den Geschichten der jungen Hauptfiguren des Films wider: Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen in einem Übergangsheim nahe Luhansk. Von betrunkenen und prügelnden Eltern erzählen sie. Ihre Suche nach Geborgenheit und Normalität, doch auch überwältigende Wut und selbstzerstörerische Tendenzen zeigt Simon Wilmonts Film mit sehr empathischem Blick.
Den Nerv des Publikums traf das Festival mit seinem Eröffnungsfilm »Nawalny«, dem Porträt des russischen Oppositionellen, das zugleich einen sehr guten Eindruck vermittelt, wie das System Putin tickt. Trotz gleichzeitigen regulären Kinostarts lief das spannende Werk mehrmals vor vollem Haus. Insgesamt war diese erste Hybridausgabe des DOK.fest an Kinobesucherzahlen gemessen (ca. 21 000) nicht ganz so erfolgreich wie die Ausgaben vor der Pandemie, die Freude an der Rückkehr ins Kino und Livebegegnungen mit Filmemachern nach zwei »häuslichen« Ausgaben war dennoch offensichtlich groß. Und obwohl aktuelle politische Themen das Programm prägten, wies es bei insgesamt mehr als 120 Filmen noch einige weitere Schwerpunkte auf: Künstlerporträts aus der Welt von Musik und Tanz etwa zogen sich durch diverse Sektionen; mehrere Filme des Gastlands Spanien forschten nach dem Erbe der Franco-Diktatur; im »DOK.focus Brave New Work« wurde nach dem Zustand und der Zukunft unserer Arbeitswelten gefragt, auch der allerneuesten. So porträtiert »Pornfluencer« des Ludwigsburger Filmstudenten Joscha Bongard ein junges Paar, das sein Geld mit Onlinepornos verdient. Richtig reich werden wollen sie, und damit sie dabei auch immer schön an sich glauben, manipulieren sie sich selbst mit täglichen »Affirmationen« vor dem Spiegel. Was aber noch mehr erschreckt als die neoliberale Deformation, sind die stockkonservativen Geschlechterbilder und die Machtverhältnisse, die der Film peu à peu zum Vorschein bringt. Um Geldverdienen im Internet geht es auch in »Girl Gang« von Susanne Regina Meures in der Sektion DOK.deutsch: Hier sind es die Eltern, die ihre zu Beginn der Dreharbeiten 14-jährige Tochter zu täglichen Videos antreiben, damit die junge Influencerin das Familienunternehmen voranbringt. Ein Blick in eine seltsame Welt zwischen Kosmetik-Content, Fan-Hysterie, Likes und Hatern.
In wohltuend andere Welten konnte man sich im formal herausragenden Berg der Niederländerin Joke Olthaar entführen lassen, einer bild- und soundgewaltigen Meditation über Gebirge. In wuchtigen Schwarz-Weiß-Bildern mit außergewöhnlichem Gespür für Texturen und grafische Kompositionen, begleitet von Drone-Sounds, taucht man wie in ein frühes Erdzeitalter ein. Die Dramatik eines Gewitters, die Winzigkeit von Menschen in dieser Landschaft und dann alte, körnige Amateuraufnahmen einer Leichenbergung erzählen von Schönheit und Bedrohlichkeit der Berge, die hier manchmal aussehen wie in Stein gegossene Musik.
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