28. Filmfest Oldenburg
»A Brixton Tale« (2021)
Im Mai vergangenen Jahres war das Filmfest Oldenburg vorgeprescht und verkündete inmitten vieler Festivalabsagen, es würde im September virtuell und in den Kinos stattfinden. Das damals praktizierte Sicherheitskonzept funktionierte auch in diesem Jahr – mit mehr Filmen und mehr Gästen. Von den 30 neuen Langfilmen wurden elf auch digital als Stream angeboten, dazu kamen fünf Retro- und drei Tribute-Filme
So waren die fünf Tage in Oldenburg erneut ein schönes Beispiel für ein familiäres Festival, einerseits Schaufenster des unabhängigen Films, andererseits die Möglichkeit für Begegnungen – zwischen Filmemachern und Publikum, aber auch der Filmemacher untereinander, für die dies in Zeiten der Pandemie eine noch willkommenere Gelegenheit zum Erfahrungsaustausch war.
Entstanden aus einer Liebe zum unabhängigen Kino, bei dem vor allem US-Independents im Mittelpunkt standen, hat sich das Festival diese Liebe bewahrt, zeigt sich aber auch konsequent offen für Anderes und Aktuelles. Dafür stand in diesem Jahr zum einen Josie Maynards Dokumentarfilm »The Pasha«, ein Porträt des afghanischen Generals Abdul Rashid Dostum, langjähriger Verbündeter der Westmächte im Kampf gegen die Taliban, aber nicht unumstritten. Dem Film war die große Vertrautheit der Filmemacherin mit dem Land, in dem sie lange Zeit verbrachte, anzumerken. Zum anderen gab es einen kleinen Schwerpunkt Südostasien, mit dem Tribute, der der Filmemacherin Mattie Do aus Laos gewidmet war, mit dem Abschlussfilm aus Thailand und mit »What happened to the Wolf?« aus Myanmar.
Oldenburg ist auch eines der Festivals, das den Filmemachern die Treue hält, so lief in diesem Jahr mit »Mi Lubita, mon amour« das Regiedebüt der Schauspielerin Noémie Merlant (einem größeren Publikum bekannt geworden in der Rolle der Malerin in »Porträt einer jungen Frau in Flammen«) – sie war bereits 2011 in Oldenburg mit ihrem Schauspieldebüt zu Gast gewesen und kehrte 2016 zurück, damals erhielt sie den Schauspielpreis.
Zu meinen eigenen Favoriten des diesjährigen Jahrgangs gehörte »A Brixton Tale«, das Langfilmdebüt von Darragh Carey und Bertrand Desrochers, die Geschichte einer YouTuberin aus begütertem Hause, die einen jungen Schwarzen als Objekt nicht nur ihrer Kamera entdeckt. Geschichtenerzählen als (Über-)Dramatisierung prekärer Lebensverhältnisse wird hier problematisiert, aber als die beiden jungen Leute sich zu einer Gewalttat hinreißen lassen, wird nur er vom Gericht verurteilt. Erstaunlich war auch der zweite Film des erst 19jährigen Jack Fessenden (Sohn der Indie-Ikone Larry Fessenden), der in Oldenburg vor drei Jahren sein Regiedebüt »Stray Bullets« vorgestellt hatte. Dem kleinen Gangsterfilm von damals folgte mit »Foxhole« jetzt ein zugleich epischer wie intimer Film, in dem es um Gewissensentscheidungen im Krieg geht: der amerikanische Bürgerkrieg, der Erste Weltkrieg und der Irakkrieg - stets wird eine Gruppe von Soldaten (verkörpert in allen drei Episoden von denselben Darstellern) auf engstem Raum mit Fragen des Moral konfrontiert. Auch ein anderer Sohn eines berühmteren Vaters kam zum zweiten Mal nach Oldenburg, Norman Mailers Sohn Michael, der hier vor Jahren als Produzent anwesend war, diesmal aber mit einer Regiearbeit: »Swing« war ein gradliniger Sportfilm, in dem die Mitglieder einer Universitäts-Rudermannschaft zu einem Team zusammenwachsen müssen - gut gespielt, mit dem wie immer verlässlichen Michael Shannon in der Rolle des Trainers.
Als lohnenswerte Ausgrabung erwies sich der einstündige »The Amusement Park”, von George A. Romero, 1973 als Auftrags- (public service) film gedreht, der sein Plädoyer gegen die Diskriminierung alter Menschen mit beißender Ironie ins Bild setzt, die Konsumkritik seines späteren Klassikers »Zombie« vorwegnehmend.
Eine erstaunliche Brücke zwischen klassischer Musik und Horrorkino schlug dann der Abschlussfilm »The Maestro«, mit dem sich Somtow Sucharitkul, der Leiter des thailändischen Jugendsinfonieorchesters, einen Traum erfüllte: Er schrieb das Drehbuch und übernahm selber die Hauptrolle des Komponisten, dem in Europa die Anerkennung verwehrt bleibt und der nun danach strebt, in Thailand sein eigenes Opus Magnum zur Aufführung zu bringen. Dafür rekrutiert er talentierte Kinder und Jugendliche, die er allerdings auch durch brachiale Maßnahmen bei der Stange zu halten weiß, dabei mehr und mehr dem Wahnsinn verfallend. Die hier zum Ausdruck kommende Liebe zum (Trivial-)Kino stand im Mittelpunkt zweier weiterer Filme, die auf hinreißende Weise von der Faszination des Kinos handelten: Im britischen »Alien on Stage« hat sich eine Gruppe von Busfahrern und -Fahrerinnen im britischen Dorset für ihre jährliche Theateraufführung diesmal Ridley Scotts Film »Alien« ausgesucht. Was in ihrer Heimatstadt zum Flop gerät, wird zum Hit, als sie es in einem Theater im Londoner Westend zur Aufführung bringen. Die Detailversessenheit der Beteiligten hinter den Kulissen (besonders des Mannes, der die aufwändigen Spezialeffekte von Ridley Scotts Film auf das ihm Mögliche herunterbricht) und die Spielfreude der Darsteller werden im Film von Danielle Kummer und Lucy Harvey voller Zuneigung betrachtet. Nur acht Minuten brauchte der niederländische Regisseur Lucas Camps mit seinem Kurzfilm »Wall #4«, um bei einer Filmvorführung die Grenzen zwischen Zuschauern und Figuren auf der Leinwand verschwimmen zu lassen. Dafür gab es am Ende die Auszeichnung als bester Kurzfilm.
Mit der Retrospektive (für mich immer der wichtigste Grund, nach Oldenburg zu kommen), die im vergangenen Jahr einem höchst arrivierten Filmemacher, William Friedkin, gewidmet war, betrat das Festival dieses Mal Neuland, denn der italienische Produzent und Regisseur Ovidio G. Assonitis hat unter den Cineasten nicht gerade den besten Ruf, gilt er doch als jemand, der erprobte Erfolgsrezepte gerne noch einmal aufkocht, etwa 1977 mit »Tentacles« Steven Spielbergs »Der weiße Hai«: Bei ihm ist das Monster aus dem Meer ein Riesenpolyp. Die sechs Filme (vier Regiearbeiten und zwei Produktionen) aus den Jahren 1972-1981 erwiesen sich jedoch als handwerklich solide mit durchaus originellen Momenten, wobei »The Visitor« mit seiner Allstar-Besetzung (darunter Franco Nero als eine jesusähnliche Figur) der ideale Mitternachtsfilm war, eine bizarre Geschichte um Außerirdische auf der Erde, die gegen einen Geheimbund antreten, der den Satan Kinder zeugen lässt. Zudem erwies sich Assonitis vor und nach den Vorführungen als begabter Erzähler, der nicht nur erklärte, was James Cameron (als offizieller Regisseur) und was er selber (als Produzent) 1981 bei »Piranhas II: Fliegende Killer« inszeniert hatte, sondern auch jede Menge schöner Anekdoten auf Lager hatte.
Ebenso erkenntnisreich war die Begegnung mit der laotischen Filmemacherin Mattie Do, nicht weniger leidenschaftlich als Assonitis, wenn es um das Filmemachen geht. Zur Premiere ihres bislang letzten Films, »The Long Walk«, konnte sie im vergangenen Jahr nicht kommen, das wurde jetzt nachgeholt. Ihre drei langen Filme erzählen allesamt Geistergeschichten, allerdings keine Horrorfilme, sondern Dramen, in denen die Toten die Lebenden heimsuchen. Was besonders für sie einnimmt, sind die komplexen Figuren: Hat man sich als Zuschauer ein erstes Bild von ihnen gemacht, wird es durch nachfolgende Ereignisse auf den Kopf gestellt.
Aus Deutschland kamen als Uraufführungen RP Kahls »Als Susan Sonntag im Publikum saß« und Torsten Rüthers »Leberhaken«. Dieser Debütfilm war zugleich der Eröffnungsfilm – und Tribut an die Pandemie: ein Zweipersonenstück mit Hardy Daniel Krüger (bisher Hardy Krüger Jr.) als Boxtrainer und Luise Grossmann als boxhungrigem Nachwuchstalent, die an einem späten Abend seine Kellerräume aufsucht und sich von ihm trainieren lassen will: ein Schlagabtausch nicht nur mit Worten. Auf Worte dagegen beschränkte sich diesmal RP Kahl, der den legendären Schlagabtausch zwischen Norman Mailer und mehreren Feministinnen bei einer Podiumsdiskussion 1971 in New York (festgehalten in D.A. Pennebakers Film »Town Bloody Hall«) nachinszenierte und immer wieder durch Reflexionen unterbricht: Was hat sich seit damals verändert? Was ist noch immer relevant?
Am Ende fügte sich alles wunderbar zusammen: RP Kahl konnte Michael Mailer für seinen Film interessieren, der ihm Unterstützung bei der Beschaffung von Clips aus »Town Bloody Hall« für eine englischsprachige Version zusicherte, das eigens angereiste Jugendorchester von Thailand spielte bei der Abschlussveranstaltung neben einer klassischen Komposition (der Musik zu Murnaus »Nosferatu«) auch Stücke aus Filmen von Ovidio G. Assonites, und die Jury, diesmal gebildet aus den drei anwesenden Mitgliedern des Festival Advisory Boards, Deborah Unger, Buddy Giovinazzo und RP Kahl, setzte politische Akzente mit der Preisvergabe. Eandra Kyaw Zin, die Hauptdarstellerin aus »What happened to the Wolf?«, dem eindringlichen Porträt der Annäherung zweier ganz verschiedener Frauen, bekam den Preis als beste Darstellerin, sie selber befindet sich seit Februar in den Gefängnissen der Militärjunta, vor der der Regisseur und seine Ehefrau untertauchen mussten, der Audacity Award ging an »Faggots«, mit dem Patrycja Planik und Dominik Krawiecki ein deutliches Zeichen gegen die Homosexuellenverfolgung in Polen setzten.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns