Venedig: Vom Fräulein Marx bis Greta Thunberg
» I Am Greta« (2020)
Das Filmfestival von Venedig will im Spätsommer des Corona-Jahrs 2020 beweisen, dass öffentliches Zusammensein wieder geht. Die Filme rücken in den Hintergrund
Es geht in diesem Jahr um mehr als um den Goldenen Löwen, das ist bei jeder Vorstellung dieses 77. Filmfestivals von Venedig zu spüren. Hier, auf dem Lido, um den »Palazzo del Cinema«, den in den 30er Jahren gebauten Filmpalast herum, muss in diesem Spätsommer des Corona-Jahrs 2020 der Welt etwas bewiesen werden. Nicht nur, dass das Kino überleben kann, sondern dass es Massenveranstaltungen wie ein Festival mit Besucherströmen, mit Sälen, Restaurationsbetrieben und allem drum herum geben kann. Und dass sie sich auch noch einigermaßen normal anfühlen, auch wenn jeder aufgefordert ist, sich an ein bestimmtes Set an Regeln zu halten.
Auf Jahre hinaus werden die Bilder dieser 77. Ausgabe deshalb auf den ersten Blick datierbar sein: Die für ihr Lebenswerk geehrte Tilda Swinton, wie sie auf dem Roten Teppich posiert, im Hintergrund statt jubelnder Fans maskentragende Fotografen. Oder die französische Schauspielerin Ludivine Sagnier, in diesem Jahr Mitglied der Jury, die den sonst so fotogenen Moment des Vom-Boot-Steigens bei der Ankunft am Lido nonchalant dadurch bricht, dass sie ihre Maske nach Art des gemeinen Volks für einen Moment unkleidsam unterm Kinn baumeln lässt. Während Jury-Präsidentin Cate Blanchett mit Maske durch die Straßen flaniert, als wäre es das neuste schicke Mode-Accessoire, das zudem den praktischen Nutzen hat, ein bisschen mehr Anonymität zu gewähren.
Die erste vorläufige Bilanz des zehntägigen Festivals, das am 2. September startete, kann wohl lauten, dass das Hygienekonzept von Venedig funktioniert: An den Eingängen des Festivalgeländes wird mit Infrarotgeräten Fieber gemessen, schnell und freundlich, eine Maßnahme, die als Zusatz zu den üblichen Sicherheitskontrollen kaum weiter auffällt. Die Pflicht, Tickets ausschließlich Online und im Voraus zu buchen, hat tatsächlich das Schlangestehen und Gedrängel vor den Kinosälen abgeschafft, und die Maskendisziplin sowohl im freien Areal vor als auch während der Vorstellungen in den Kinos ist vorbildlich. Dass es weder bequem noch angenehm ist, auf diese Weise ganze Tage in Maske zu verbringen, versteht sich von selbst, aber unter den Mostra-Besuchern scheint es die Übereinkunft zu geben, dass es das wert ist.
Wenn da nicht die Masken wären, könnte man zwischendurch fast vergessen, was Corona überhaupt bedeutet: Zu Gia Coppolas Film »Mainstream« strömen die Massen, obwohl das zweite Regiewerk der 33-jährigen Enkelin des großen Francis Ford Coppola »nur« in der Nebenreihe der Sektion »Orrizzonti« läuft. Und wenn dann im 1.800 Plätze fassenden Palabiennale eben doch jeder zweite Platz besetzt ist, dann fühlt sich das Kino nach neuen Maßstäben geradezu berstend voll an. Und das Erlebnis allein wiegt dann fast schon wieder die Enttäuschung auf, die der Film auslöst, eine letztlich sehr banale Kritik am YouTuber- und Influenzer-Phänomen, die auch reichlich Schnickschnack in der Präsentation nicht retten kann.
Vielleicht sind allgemein die Erwartungen an die Filme in diesem Jahr anders: Nathan Grossmanns Dokumentarfilm über Greta Thunberg mit dem vielversprechenden Titel »I am Greta« kann auch nicht halten, was er verspricht. Das Porträt, das zwar den Vorteil hat, dass Grossmann schon zu filmen anfing, bevor Greta zum weltweiten Phänomen wurde, kommt trotz intimer Kamera seinem Sujet nie wirklich nahe. So ist die junge Aktivistin zwar die ganze Zeit im Bild, von den Anfängen vorm schwedischen Parlament über die Begegnungen mit Politikern in der ganzen Welt bis zur Rede vor der UN, aber nie erfährt man dabei etwas über die bereits bekannten Bilder hinaus. Man muss es aber vielleicht auch nicht – für die Botschaft reicht es so. Zur Pressekonferenz schaltete sich Greta aus der Schule live per Stream dazu, um die Dringlichkeit ihrer Klimakrisenbotschaft ein weiteres Mal zu unterstreichen.
In anderen Jahren wäre wohl auch mehr zur Geltung gekommen, dass der Wettbewerb bislang stark den Frauen gehört – und zwar vor und hinter der Kamera. Es sind die Frauengeschichten, die bislang den stärksten Eindruck hinterließen: Die bosnische Regisseurin Jasmila Zbanic, die in ihrem »Quo Vadis, Aida?« einer Übersetzerin durch die Hölle des Massakers von Srebrenica folgt, und den Schrecken unmittelbar und ohne Aber nachvollziehbar macht. Susanna Nicchiarelli, die in »Miss Marx« die britische Schauspielerin Romala Garai in die schwierige Lage der Karl-Marx-Tochter Eleanor versetzt, die das Erbe ihres Vaters so souverän verwaltet und weitergeführt hat, im privaten Leben aber den Widersprüchen ihrer Zeit nicht ausweichen kann.
Oder der Ungar Kornél Mundruczó, der in »Pieces of a Woman« die als Princess Margaret aus der Serie »The Crown« bekannte Vanessa Kirby eine Frau spielen lässt, die bei ihrer ersten Geburt das Kind verliert. Allein die ungeschnittene 20-minütige Eingangssequenz der Hausgeburt prägt sich tief ins Gedächtnis ein. Vanessa Kirby so beherrschter wie intensiver Auftritt als Frau, die ihr Leben danach radikal neu strukturieren muss, auch gegen die eigene Familie, macht sie bereits zur heißen Kandidatin für die Copa Volpi, den Preis für die beste Schauspielerin.
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