Venedig: Auf Abstand zu den Stars
»The World to Come« (2020)
Am Mittwochabend eröffnet das 77. Filmfestival von Venedig – als erstes Covid-Ära-Festival, das wortwörtlich neue Wege finden muss für die Begegnung zwischen Publikum, Kino und seinen Stars
In seinem 77. Jahrgang muss sich das älteste Filmfestival der Welt mal wieder neu erfinden: Das Internationale Filmfestival in Venedig, die sogenannte »Mostra« findet als erstes großes Festival der Covid-Ära statt. Was unter anderem bedeutet, dass in diesem seltsamen Jahr einmal nicht die Filme im Vordergrund stehen werden, sondern das Festival als solches. Wie soll das gehen, Filmpremieren, die statt vor dicht gepacktem Publikum vor planvoll gelichteten Reihen von Zuschauern stattfinden? Was macht ein Glamour-verwöhntes Festival wie das von Venedig, wenn am Roten Teppich kein Publikum lagern darf, das nach den Stars schreit? Und werden überhaupt welche kommen von diesen Stars? Alles Fragen, auf das die Mostra Antwort geben muss in den Tagen bis zum 12. September, wenn der Goldene Löwe verliehen wird.
Wie alle Ereignisse zur Zeit beginnt auch das 77. Filmfestival in Venedig zuvorderst mit einem »Konzept«: Sicherheit und Gesundheit der Besucher sollen garantiert werden durch ein Wegeleitsystem, das Massenaufläufe verhindert; durch die Pflicht zur Online-Karten-Reservierung sollen die üblichen Schlangen am Eingang vermieden werden, die sich hoffentlich nicht einfach dorthin verschieben, wo an den Eingängen zum Gelände die Körpertemperatur gemessen wird. Statt der üblichen drei bis vier Vorstellungen pro Film sind sechs bis zehn programmiert; zu den traditionellen, gut ventilierten Kinosälen kommt außerdem ein Freilichtkino auf dem Lido dazu. Die Zahl der Filme wurde reduziert – zwar sind Haupt- und Nebenwettbewerb mit jeweils 18 Filmen so gut bestückt wie zu Vorpandemie-Zeiten, aber das Nebenprogramm wurde unter anderem dadurch ausgedünnt, dass man die Retrospektive als Sektion ganz auslagerte – sie fand als »virtuelle« Veranstaltung während des Retro-Festivals in Bologna statt.
Doch auch das beste Konzept kann in diesen Zeiten nicht vor dem mulmigen Gefühl bewahren, das mit Publikumsveranstaltungen einhergeht – schließlich ist hier jeder Einzelne, im Kinosaal erst recht, von der Bereitschaft der Anderen zur Rücksichtnahme abhängig. Dass es in ziemlich letzter Minute zu einem Austausch eines Mitglieds der prominent besetzten Wettbewerbsjury kam, könnte auch damit in Zusammenhang stehen: Statt des ursprünglich angekündigten rumänischen Regisseurs Cristi Puiu wird der amerikanische Schauspieler Matt Dillon unter Vorsitz der Jurypräsidentin Cate Blanchett über die Vergabe des Goldenen Löwen entscheiden. Von Cristi Puiu hatte vor wenigen Wochen ein Video die Runde auf den sozialen Netzwerken gemacht, auf dem er gegen die Maskenpflicht wetterte. Eine offizielle Begründung des Austauschs gab es jedoch nicht.
Dass es in diesem Jahr mehr um das Festival und weniger um die einzelnen Filme gehen wird, bestärkt auch die Auswahl der Wettbewerbsbeiträge, deren Schwerpunkt ganz auf europäischem Arthouse-Kino liegt. Von der entscheidenden Rolle, die Venedig in den letzten Jahren für die Oscar-Saison spielte – unter anderem feierten Oscar-Gewinner wie »Joker«, »La La Land« und »Shape of Water« hier Premiere – muss die Mostra für dieses Mal zurücktreten. Bei den drei amerikanischen Produktionen im Wettlauf um die Löwen handelt es sich um Independent-Filme, interessanter Weise alle von Regisseuren mit Migrationserfahrung gedreht: Chloé Zhao, in China geboren, stellt ihren Film »Nomadland« vor, in dem Frances McDormand die Hauptrolle spielt. Wie Zhao landete auch die aus Schweden stammende Schauspielerin Mona Fastvold den Debüt-Erfolg beim Festival in Sundance, ihr »The World to Come« verfügt mit Casey Affleck, Vanessa Kirby und Christopher Abbott über eines der namhaftesten Ensembles hier am Lido, während der Aserbaidschaner Hilal Baydarov für seinen »In Between Dying« seine amerikanischen Kollaborateure wie etwa Danny Glover vor allem hinter der Kamera versammelt.
Neben solchen Neuentdeckungen runden bekannte Namen wie die Französin Nicole Garcia (»Amants«), der Ungar Kornel Mundruczo (»Pieces of a Woman«), Amos Gitai aus Israel (»Laila in Haifa«), Majid Majidi aus dem Iran (»Sun Children«) und die früheren Berlinale-Gewinner Jasmila Zbanic (»Quo vadis, Aida?«) und Gianfranco Rosi (»Notturno«) die Auswahl ab. Mit Julia von Heinz' Film »Und morgen die ganze Welt« über eine junge Antifa-Aktivistin geht auch ein deutscher Beitrag ins Rennen. Nicht nur mit seinem Thema liegt »Und morgen die ganze Welt« damit im Trend: Julia von Heinz ist eine von acht Regisseurinnen des diesjährigen Wettbewerbs, der damit dem erklärten Ziel der Parität von Männern und Frauen für dieses Mal wenigstens einen entscheidenden Schritt näher kommt.
Das Festival dauert von Mittwoch, den 2.9.2020 bis zum Samstag, den 12.9.2020
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