Interview: Roy Andersson über seinen Film »Über die Unendlichkeit«
»Über die Unendlichkeit« (2019) © Neue Visionen Filmverleih
Er ist der gutherzige Philosoph des europäischen Kinos, der mit melancholisch-lakonischem Witz und anspielungsreich auf die menschliche Existenz blickt mit all ihren Unzulänglichkeiten, kleinen Hoffnungen und deren Scheitern. Der schwedische Filmemacher Roy Andersson reflektiert seit Jahren auf der Leinwand unverwechselbar, was es heißt, ein Mensch zu sein. Und ist dabei doch ein bescheidener Handwerker des Bewegtbildes geblieben, wie sich im epd-Film-Gespräch zeigt. 1943 in Göteborg geboren, studierte er in den sechziger Jahren an der Hochschule des Schwedischen Filminstituts, bevor er 1970 mit der zarten Teenagerromanze »Eine schwedische Liebesgeschichte« sein Spielfilmdebüt gab, mit dem er allein auf der Berlinale vier Preise gewann. Nach dem Flop mit seinem zweiten Film, der absurden Gesellschaftssatire Giliap, zog sich Andersson aus der Filmbranche zurück und drehte höchst erfolgreich über zwei Jahrzehnte lang mehrere Hundert Werbespots. Erst im Jahr 2000 kehrte er mit »Songs from the Second Floor« ins Kino zurück. Die absurd-lakonische Groteske markiert thematisch und stilistisch den Beginn einer Trilogie über das menschliche Wesen. Es folgten »Das jüngste Gewitter« (2007) und »Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach«, mit dem er 2014 den Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig gewann – eine späte Würdigung mit 71. In allen drei Werken widersetzt sich Andersson den Konventionen des klassischen Erzählkinos, zeigt in zahlreichen, lose verbundenen Episoden und langen Einstellungen leicht verfremdet den Alltag einiger Menschen in seiner Heimatstadt und reflektiert das Dasein und menschliche Bedürfnisse und Schwächen, mal tragikomisch, mal absurd-lakonisch, aber immer zutiefst humanistisch, voller Verständnis und mit unverwüstlichem Humor. Fünf Jahre nach dem Abschluss der Trilogie ist Andersson zurück, und irgendwie passt es zu seinem schrägen, leisen Humor, dass »Über die Unendlichkeit« die voraufgegangenen Filme fast nahtlos fortsetzt, als vierter Teil gewissermaßen.
Thomas Abeltshauser hat den Regisseur auf den Filmfestspielen von Venedig gesprochen, wo »Über die Unendlichkeit« im September Weltpremiere feierte.
Vor genau fünf Jahren gewannen Sie hier auf dem Lido mit »Eine Taube sitzt auf einem Dach und denkt über das Leben nach« den Goldenen Löwen. Ihr neuer Film scheint direkt daran anzuschließen. Wie entstehen die Ideen für diese Vignetten?
Diese Ideen fliegen mir immer irgendwie zu. Der neue Film existierte schon lange in meinem Kopf, aber nicht bis ins Detail ausformuliert. Oft ist es eine Beobachtung auf der Straße oder in einem Restaurant, die ich abstrahiere und von allem Ballast befreie. Irgendwo taucht etwas auf, ein Moment, eine Szene oder auch eine Stimmung. Viele Leute halten den Film für melancholisch, und vielleicht ist er das sogar ein bisschen.
Er reflektiert vor allem, wie ich selbst das Leben betrachte. Wer weiß, womöglich habe ich tatsächlich eine melancholische Ader (lacht). Aber für mich stecken in »Über die Unendlichkeit« auch viel Witz und Komik. Humor ist überlebensnotwendig für uns; wir brauchen ihn, um dieses Dasein auszuhalten. Ohne Humor wäre es schrecklich, am Leben zu sein.
Ist das Melancholie oder schon Verzweiflung?
Verzweiflung?! Oh, ich hoffe nicht!
Sie setzen in den in sich abgeschlossenen Szenen erstmals eine Erzählstimme ein, die das Geschehen kommentiert. Warum?
Es ist eigentlich nicht mein Stil, deshalb habe ich bisher nie Off-Kommentar benutzt. Aber jetzt gefällt es mir. Ich habe mich dabei sehr von Alain Resnais’ Hiroshima, mon amour inspirieren lassen. Dort spricht die weibliche Hauptfigur oft im Voice-Over, ohne dass sie selbst im Bild zu sehen ist. Ich fand das sehr interessant, ich mochte den Film sehr, er ist wunderschön. Und auch traurig. Und noch etwas hat mich auf die Idee des OffKommentars gebracht: Bob Dylans Song »A Hard Rain’s A-Gonna Fall«. Darin finden sich die Zeilen »I met a man who was wounded in love, I met another man who was wounded in hatred«, und diese Erkenntnis, dass einem sowohl Liebe als auch Hass Wunden zufügen können, berührte mich sehr.
Wie entwickeln Sie daraus diese Mischung oder Gegenüberstellung alltäglicher, scheinbar banaler Momente und politischer, historischer Situationen?
Ich wurde Filmemacher, weil ich ein großer Bewunderer des italienischen Neorealismus war, besonders »Fahrraddiebe«, den ich für ein Meisterwerk halte, aber auch andere Filme von Vittorio de Sica. Er zeigte meist ganz gewöhnliche Menschen, aus der Unterschicht, oft auch arbeitslos. Ich habe de Sica nachgeeifert; mein Traum war immer, ähnlich gute Filme wie er zu erschaffen.
Auch die bildende Kunst scheint ein Einfluss für Sie zu sein.
Als Filmemacher war ich zunächst klar dem Realismus zugewandt, auch als Betrachter in der Malerei. Das hat sich verändert. Heute bevorzuge ich stilisierte, abstrakte Kunst, Chagall und Goya etwa. Oder der Däne Vilhelm Hammershøi, der sich in seinen Gemälden immer wieder mit Themen wie Einsamkeit und Entfremdung auseinandergesetzt hat. Er ist sich und seinem Stil ein Leben lang treu geblieben, sehr beeindruckend.
In diesem Sinne unverwechselbar sind Ihre Filme auch.
Ich lasse mich bei meiner Arbeit meist vom Bauchgefühl leiten und vertraue darauf. So hat sich vielleicht zwangsläufig so etwas wie eine stringente Form entwickelt.
Die einzelnen Szenen entstehen dabei nicht am Stück, sondern über einen längeren Zeitraum, immer wieder unterbrochen. Wie drehen Sie konkret?
Ich bin vom Faktor Zeit relativ unabhängig, weil die einzelnen Szenen nicht verknüpft sind oder aufeinander aufbauen. Ich erzähle keine Geschichte mit dramatischem Bogen und denselben Figuren. Das gibt mir eine unglaubliche Freiheit. Es sind ganz unterschiedliche Charaktere, mal eine Hausfrau, mal Hitler. Aber sie sind alle aus demselben Körbchen, in dem das steckt, was uns als Menschen ausmacht. Ich fühle mich allen auf eine Art verbunden, selbst jemandem wie Hitler.
Inwiefern?
Mich interessiert etwa, wie diese schändliche Naziherrschaft möglich war, wie jemand wie Hitler eine solche Karriere machen konnte. Er war ja ein Niemand, eine tragische Figur. Und in jungen Jahren ein gescheiterter Künstler von geringem Talent.
Wie würden Sie Ihre Art des Humors beschreiben?
Zunächst hoffe ich, dass mein Humor universell ist und überall verstanden werden kann. Humor ist für mich Überleben. Das ist etwas, das uns Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet: Humor als Rettung, dies alles hier zu ertragen. Ist das nicht wunderschön? Manchmal hilft natürlich alles nichts, aber ich versuche, mit meinem Humor authentisch zu sein, die Menschen und das Dasein möglichst wahrhaftig zu beschreiben. Meine Art von Humor wäre undenkbar ohne diese nackte, entblößte Wahrheit.
Ist das auch der Grund, warum Ihre Filme bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet sind?
Ja, genau deshalb benutze ich keine Schatten mehr. In meinen Bilderanordnungen gibt es für die Figuren keinen Platz, sich im Dunkeln zu verstecken. Alles wird ans Licht gezerrt. Deswegen liebe ich auch die Neue Sachlichkeit, eine Kunstrichtung vor allem während der Weimarer Republik. Diese Klarheit, diese Tiefenschärfe, alles ist im Fokus. Das gibt es im Film nicht, der Hintergrund ist meist unscharf. Mich inspirieren diese Gemälde, von Otto Dix etwa, weil ich ebenso alles in den Fokus rücken will, auch das Groteske und Hässliche.
Die von Ihnen geschaffenen Szenen zeichnen sich durch einen streng komponierten Minimalismus aus. Wie entsteht diese kunstvolle, fast abstrakte Leere?
Es fällt mir sehr schwer zu beschreiben, wie ich arbeite, weil vieles davon intuitiv geschieht. Aber ich drehe grundsätzlich in meinem Studio, weil ich hier alles unter Kontrolle habe und jeden Moment auf seine Essenz reduzieren kann. Jede Szene ist eine eigene Kurzgeschichte. Und zusammen ergeben sie, zumindest in meinen Augen, einen umfassenden Blick auf die menschliche Existenz. Wir sehen auf 32 unterschiedliche Arten, was es heißt, ein Mensch zu sein. Und jeweils mit anderen Charakteren; nur manchmal taucht eine Figur mehrmals auf.
Wie arbeiten Sie in einem solch ästhetisch strengen Rahmen mit den Schauspielern?
Mit viel Zeit und Geduld. Als Regisseur muss man viel Geduld mitbringen. Ich höre nicht auf, mit den Darstellern zu proben, bevor ich nicht den Eindruck habe, an den Kern der Wahrheit gekommen zu sein, eine wahrhaftige Emotion, ein authentisches Verhalten gefunden zu haben.
Gibt es beim Dreh noch Raum für Experimente oder Improvisation?
Ich schreibe zunächst den Dialog, aber dann beginne ich sehr schnell, mit Darstellern zu proben. Ich probiere dabei viele, viele Darsteller für die unterschiedlichen Szenen aus. Es ist ein langer Prozess, und es gibt Momente, in denen ich diese Art der Herangehensweise nicht mag, weil es nicht fair ist, Menschen sich so entblößen zu lassen, aber diese Offenheit ist notwendig, um etwas zu erschaffen, das für uns alle wertvoll ist. Es ist eine Gratwanderung, und ich versuche dabei, jeden Zynismus zu vermeiden.
Was bedeutet die »Unendlichkeit« für Sie?
Alles ist Energie, sie kann nicht zerstört, nur in andere Formen transformiert werden. Wenn wir sterben, werden wir immer noch hier sein, vielleicht als Tomate oder Kartoffel. Aber das ist immer noch besser als gar nichts.
Zugleich zeigt der Film das Scheitern des Menschen, weil er immer wieder dieselben Fehler macht.
Weil wir nichts aus der Geschichte lernen, sind wir verdammt, sie zu wiederholen. Das ist unsere große Tragik. Es wird immer wieder Konflikte und Krieg geben, aber wir müssen zumindest versuchen uns zu bessern. Und Humor kann dabei helfen.
Hat sich Ihr Blick auf das Leben und das Dasein im Alter verändert?
Ich war früher sicher ein größerer Pessimist als heute. Wenn man jung ist und einem scheinbar alle Möglichkeiten offenstehen, macht einen dieser Reichtum auch leichtsinnig und verletzbar. Es besteht immer die Gefahr, all das durch Ignoranz und Größenwahn zu zerstören. Und natürlich merke ich, dass die Zeit voranschreitet und meine eigene eben nicht mehr unendlich ist. Aber wenn ich heute Kinder sehe, diese Unschuld, wenn sie gemeinsam spielen, macht mich das gleich optimistischer.
Ende März feiern Sie Ihren 77. Geburtstag. Denken Sie manchmal an den Ruhestand?
Überhaupt nicht. Ich plane bereits meinen nächsten Film, etliche Szenen habe ich schon im Kopf. Es verblüfft mich immer wieder, wie aus kleinen Ideen langsam, aber stetig ein neuer Film gedeiht. Das will ich so lange wie möglich erleben.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns