Interview: Marjane Satrapi über »Marie Curie«
Regisseurin Marjane Satrapi am Set von »Marie Curie – Elemente des Lebens« (2019). © Studiocanal
Das Leben und die Arbeit von Marie Curie sind in vielerlei Hinsicht faszinierend: Gab es einen Aspekt, der für Sie ausschlaggebend war, diesen Film zu machen – oder eher die Summe?
Ich wuchs mit einer Mutter auf, die bestrebt war, dass ich eine unabhängige Frau wurde. Dabei gab es zwei Vorbilder: Simone de Beauvoir und Marie Curie. Zudem hatte ich schon in der Schule eine Vorliebe für Naturwissenschaft. Ich wurde weder eine große Naturwissenschaftlerin noch eine große Philosophin – aber doch eine unabhängige Frau. Natürlich hängt so ein Projekt auch vom Drehbuch ab. Dieses hier eröffnete mir neue Aspekte an Madame Curie. Ihre Entdeckungen, ihr Liebesleben mit Pierre Curie, ihr Tod – all das hängt miteinander stark zusammen. Dazu kommt, dass der Moment, in dem sie ihre Entdeckungen machen, am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert stattfindet, wo sich durch viele Entdeckungen und Erfindungen die ganze Welt ändert. Es ist also die Summe des Ganzen.
Was haben Sie erstmals über Marie Curie erfahren, als Sie das Drehbuch lasen?
Zum einen, dass Pierre Curie durch einen Unfall zu Tode kam, zum anderen all der Hass, der ihr von Seiten der extremen Rechten entgegenschlug, dass man ihre Anwesenheit bei der Verleihung des Nobelpreises nicht wünschte, auch ihre Anstrengungen im Krieg.
Ich vermute, Sie haben mit dem Drehbuchautor noch an seiner ursprünglichen Fassung gearbeitet?
Ja, das ist immer so. Man fängt an voller Enthusiasmus, die Rakete fliegt zum Mond. Aber wie ist es, wenn man dieselbe Reise mit dem Fahrrad antreten muss und das Ganze genauso interessant macht als hätte man eine Rakete? Es geht dabei vor allem ums Geld: dies ist ja kein Superhelden-Film, der viel Geld einspielen kann – also muss man sich mit weniger begnügen. Mir war es unter anderem wichtig, die Rolle von Pierre Curie hervorzuheben, der ihr wirklich ebenbürtig war. Er war ein großer Physiker, so wie sie eine große Chemikerin war – und die gemeinsame Arbeit führte zu ihren bahnbrechenden Entdeckungen. Wenn diese »supporting role« größer wird, wird auch die Hauptrolle größer.
Haben Sie sich auch noch einmal die ursprüngliche graphic novel angeschaut, auf der das Drehbuch basiert?
Nein. Ich wusste anfangs auch gar nicht, dass das Drehbuch darauf basierte. Als ich es bekam und las, sagte ich zu mir: das ist genau das, was ich über Madame Curie erfahren wollte. Ich wusste, das musste ich selber entwickeln, denn wenn man eine so bestimmende Figur hat, kann man nicht immer nett und freundlich sein, um seine Ziele zu erreichen. Mir gefiel, wie der Drehbuchautor ihre Forschungsarbeit mit der Zeit und anderem verknüpft hatte. Dazu noch die graphic novel zu lesen, wäre zu verwirrend für mich gewesen – das sind eindrucksvolle Bilder, aber kein Kino. Wenn ich einen Film mache, denke ich nur filmisch.
Hat die graphic novel Sie denn an Ihre eigenen Anfänge erinnert? Ihr Filmdebüt »Persepolis« basiert ja auf Ihrer eigenen graphic novel.
Nein, denn das war ein Comicbook, »Radioactive« dagegen ist eher ein Text mit Illustrationen – ein ganz anderer Ansatz, der weit entfernt ist von meiner eigenen Arbeit.
Es gab schon andere Kino- und Fernsehfilme über Madame Curie. Mich würde interessieren, ob Sie Sich die zur Vorbereitung angesehen haben oder das eher vermieden haben?
Einige kannte ich schon vorher, den Film mit Greer Garson aus den vierziger Jahren und eine Fernsehproduktion mit Isabelle Huppert. Aber jetzt wollte ich sie nicht noch einmal sehen, denn ich vergleiche meine Arbeit nicht gerne mit anderen Arbeiten. Das waren klassische Biopics, was mir wiederum einen Raum eröffnete für surrealistische Momente, für Unerwartetes, wie die zeitlichen Vorgriffe auf Doomtown und Tschernobyl. Wenn ich Filme mache, sehe ich mir generell selten andere Filme an. Man wird natürlich beeinflusst von dem, was man früher gesehen hat. Aber wenn ich einem Freund von einer Idee erzähle und der dann sagt: das hat es da und da schon gegeben, dann ist das höchst frustrierend.
Wie schwierig war es, jene Szenen, die nach ihrem Tode spielen, in die Geschichte zu integrieren, dafür die richtigen Stellen zu finden, etwa für die Hiroshima-Sequenz?
Das war in der Tat nicht einfach. Das Drehbuch begann damit, dass Madame Curie die Straße hinuntergeht, dann sah man den kleinen Jungen, der durch die zerbombten Straßen von Hiroshima läuft, schließlich erschien der Filmtitel »Radioactive« auf der Leinwand. Das legte dem Zuschauer nahe, dass Madame Curie für die Atombombe und damit für Hiroshima verantwortlich war. Das war aber nicht der Fall – sie war eine anständige Frau, die das radioaktive Element entdeckt hat, weniger anständige Menschen haben diese Entdeckung später benutzt, um andere Menschen zu töten. Und wenn Pierre Curie zu seiner Entdeckung sagt: »In den Händen von Kriminellen kann das gefährlich werden«, dann legt das nahe, er hat den Missbrauch vorausgesehen und ist deshalb mitverantwortlich. Aber er ist ein Wissenschaftler, der an den menschlichen Fortschritt glaubt, das ist eine andere Geschichte. Es war also extrem wichtig, wo genau man diese Szenen einfügt, denn der Kontext verändert ihre Bedeutung.
Können Sie mir sagen, wie dieses Problem in der graphic novel angegangen wurde?
Das Problem, wenn man eine graphic novel oder generell ein Buch liest, ist, dass man dabei aktiv ist, man entwickelt seine eigene Vorstellungskraft, man kann es zur Seite legen – beim Film dagegen bist Du für zwei Stunden emotional involviert, das macht Kino ja so mächtig.
Für mich funktionierten diese Momente ein wenig wie Brechts Theater: ich wurde aus dem emotionalen Sog herausgenommen, hatte plötzlich Distanz zu dem Geschehen. Es erinnerte mich auch an Ihren vorangegangenen Film »The Voices«: da identifiziert man sich mit der Hauptfigur, nicht zuletzt weil er zu Beginn gleich als Erzähler auftritt – aber wenn man dann sieht, was er macht, dass er Frauen ermordet, dann begreift man, dass er eben nicht der nette, schüchterne Junge von nebenan ist. Ist das Ihre Absicht, durch solche Erzählweisen das Publikum aufzurütteln?
Es ist eher so, dass das Leben so ist. Marie Curie ist keine Superheldin – zum Glück, denn die sind langweilig. Das Leben führt dich oft an Orte, die du nicht erwartet hast. Einen eigenen Stil für alle meine Filme strebe ich auch nicht an, das wäre der Tod. Ich suche nach dem Leben. Das ist mein Stil, denn das Leben ist voller Überraschungsmomente. Schwierigkeiten mag ich. Es wäre sicherlich leichter gewesen, sich auf die Epoche Marie Curies zu beschränken und das etwa durch die Musikauswahl noch zu unterstreichen. Ich aber wollte unbedingt die elektronische Musik, denn ich kann nicht über Elektronen reden und dann klassische Musik unterlegen, so wie wir nicht über Madame Curie reden können und die Atombombe außen vor lassen. Natürlich hat sie die nicht hergestellt und ist auch nicht verantwortlich dafür, aber es gibt schon eine Beziehung, die wissenschaftliche Ethik.
Können Sie sagen, wie Sie die Hauptdarstellerin Rosamund Pike ausgewählt haben? Ich war ziemlich beeindruckt von ihr, gleich in den ersten Szenen, wo sie ihrem Ehemann und auch anderen Kontra gibt.
So war sie wirklich! Ich habe mich dabei nicht an Biografien gehalten (die ja immer etwas Spekulatives haben), sondern an die Briefe, die sie geschrieben hat, also ihre eigenen Worte. Die habe ich alle gelesen. Wenn man zweihundert Briefe einer Person liest, bekommt man ein gutes Gespür dafür, wer diese Person ist. Was die Hauptdarstellerin anbelangt, so muss man, wenn man jemanden braucht, der eine höchst intelligente Person verkörpern soll, eben so jemand. Eine intelligente Person kann immer eine dumme Person verkörpern, vorspielen ist einfach – aber eine dumme Person kann nicht so tun, als wäre sie intelligent. Als ich Rosmund Pike traf, sah ich in ihren Augen, wie intelligent sie ist, supersmart und voller Feuer. Vor ihr hatte ich schon zwei andere Schauspielerinnen getroffen, aber nur bei ihr wusste ich: sie ist Marie Curie. Sie hat zudem einen Hang zur Wissenschaft, d.h. sie wusste, was sie spielte.
Und wie sieht es mit Ihrem Kameramann Anthony Dod Mantle aus? Der ist ja bekannt für seine teilweise extremen Arbeiten, etwa mit Lars von Trier.
Der ist toll! Mein Produzent Paul Webster schlug ihn vor. Er meinte, er sei bekannt als schwierig, aber das sei ich auch, also sollten wir vielleicht gut miteinander zurecht kommen. Das war dann auch der Fall, es war schön, mit ihm zu arbeiten, denn ästhetisch liegen wir auf derselben Linie. Er hat viele Vorschläge gemacht und viel hinzugefügt. Hatte ich eine »verrückte« Idee, fand er immer eine Möglichkeit, sie umzusetzen – und sie noch weiter zu treiben.
Zum Abschluss würde ich gerne noch wissen, inwieweit sie verfolgen, was im Iran passiert?
Ich bin seit zwanzig Jahren nicht mehr in meiner Heimat gewesen…
Das ist Ihnen verboten?
Mir wurde nie offiziell mitgeteilt, dass ich nicht willkommen bin, aber ich weiß nicht, ob ich wieder zurückkommen würde, wenn ich dorthin reise. Schließlich sind Leute, die weniger als ich getan haben, im Gefängnis. Die Wirtschaftskrise war ein großer Rückschlag, denn Veränderungen werden immer herbeiführt durch die Mittelklasse, die Unterschicht ist zu sehr mit ihrer Armut beschäftigt, die Privilegierten wollen ihre Privilegien behalten. Um eine genauere Analyse zu leisten, bin ich aber zulange weg aus dem Land.
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