Kritiker, Sammler, Lehrer, Restaurator
Enno Patalas
Man kann sich gut vorstellen, wie er im Januar 1957 mit seinen Freunden Wilfried Berghahn, Ulrich Gregor, Theodor Kotulla um die rechte Definition von Kritik kämpfte: für die erste Ausgabe ihrer Zeitschrift Filmkritik. Aktuelle Informationen für Filmfreunde. Sie wollten hoch ansetzen – und sich zugleich zu ihrer Neigung zum Ästhetischen wie zum Politischen bekennen: »Wie wollen es mit Walter Benjamin halten: Das Publikum muß stets unrecht erhalten und sich doch durch den Kritiker vertreten fühlen. (…) Filmkritik sollte versuchen, den Blick des ansprechbaren Kinogänger zu schärfen – im Künstlerischen: für ästhetische Strukturen und Bauformen, in denen allein (…) das Genie des Künstlers sich kundgibt; im Gesellschaftlichen: für soziale und politische Leitbilder, in denen, bewußt oder unbewußt, der Geist der Zeit sich ausspricht.« Nahezu 25 Jahre stritt er dann in über 750 Texten für sein Verständnis von Film, oft mit seiner Frau Frieda Grafe. Im ersten Jahr neigte er noch zu politischer Wertung (etwa bei Richard Brooks, Anthony Mann, Don Siegel, William Wyler), würdigte aber auch Robert Siodmaks »Nachts, wenn der Teufel kam« für seine formale, künstlerische Qualität. Je länger er dann schrieb, desto radikaler monierte er die fehlende Beachtung »der Strukturen und Bauformen«: Es ging es ihm nun weniger darum, »ablösbaren Bedeutungen« nachzuspüren, sondern eher »den Regeln, nach denen neue Bedeutungen ausgelöst werden.« Kritik habe nicht »die fertigen Ideen des Werkes in ihre Sprache zu übersetzen«, sondern »durch Vertiefung in die Struktur des Werkes seinen objektiven Gehalt zu erkennen.«
Geboren wurde Enno Patalas 1929 in Quakenbrück. Ab 1949 studierte er Publizistik und Germanistik in Münster. Dort gründete er mit Freunden rasch einen Filmclub. Das führte zu ersten Filmkritiken für den Düsseldorfer Mittag. 1963 publizierte er (mit U.Gregor) eine »Geschichte des Films (1895-1960)« sowie eine »Sozialgeschichte der Stars«. In den 1960er/1970er Jahren schrieb er regelmäßig für Die Zeit, gleichzeitig realisierte er filmische Porträts für den WDR: über F.W.Murnau und Jean Renoir, Ernst Lubitsch und Josef von Sternberg. An zwei Bänden der blauen »Reihe Film« war er maßgeblich beteiligt: 1976 über Fritz Lang, 1990 über F.W.Murnau. 1999 veröffentlichte er ein wundersam lakonisches Werk-Porträt von Alfred Hitchcock.
1973 übernahm Patalas die Leitung des Münchener Filmmuseums (und behielt sie über 20 Jahre lang inne). Damit begann der zweite Teil seiner beeindruckenden Lebensleistung. Vom ersten Tag an ging es ihm darum, Filme im Zusammenhang zu präsentieren. Seine Retrospektiven von Regisseuren, Genres und Themen, von Epochal-Stilen und National-Kinematographien wurden landesweit beachtet (und beneidet). Die Höhepunkte dabei: die Filmreihen zu Carl Theodor Dreyer (1974) und Kenji Mizoguchi (1978), zum Italienischen Neorealismus (1979) und Film noir (1981/82), zu Howard Hawks (1985) und Farbe im Film (1988). Der Kritiker wurde so zum Lehrer für viele Cinephile hierzulande, da er nach und nach half, sichtbar zu machen, was zuvor nur aus Lexika bekannt war. Gleichzeitig ging Patalas daran, Stummfilme, klassische Werke und Autorenfilme zu sammeln. Sein Archiv umfasste am Ende mehrere tausend Titel. Dieses Sammeln führte schließlich zum Ärger über den Zustand vieler Kopien. Also begann er, miserable Kopien wichtiger Filme zu restaurieren, sowie einige Meisterwerke, die unvollständig vorlagen, zu rekonstruieren (am spektakulärsten die Arbeit u.a. an »Die Nibelungen«, »Metropolis«, »M«).
Enno Patalas war ein energischer Mann, mal freundlich, mal auch streng. Es ließ sich gut mit ihm streiten, wenn er Engagement und Kompetenz anerkannte. Für Schwätzer hatte er keinerlei Verständnis. Sprach man mit ihm über Fritz Lang, konnte es sein, dass er kein Ende fand – weil er so viel erfahren und entdeckt hatte, dass ihm stets noch eine andere Anekdote, ein weiteres Detail, eine andere Nuance einfiel. Er wird fehlen.
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