Interview mit Paul Verhoeven über seinen Film »Elle«
Paul Verhoeven mit Christian Berkel am Set zu »Elle« (2016). © MFA+ Filmdistribution
"Menschen verhalten sich ständig unmoralisch und denken noch nicht einmal darüber nach"
epd Film: Ihr neuer Film »Elle« erschien mir beinahe, als hätten Sie sich selbst eine Herausforderung stellen wollen: Sie haben zum ersten Mal auf Französisch gedreht, außerdem ein sehr heikles Thema darin behandelt...
Paul Verhoeven: Absolut. Es war beängstigend. Aber auf der anderen Seite war es auch damals beängstigend, als ich mit 46 Jahren eine komplett neue Karriere in den USA anfing. Ich kann Ihnen sagen, das war auch kein Spaziergang. Aber damals war ich natürlich noch jünger, belastbarer und anpassungsfähiger. Mit dem Alter wird man doch eben ein bisschen steif. Außerdem war da diesmal die Sprachbarriere: Ich habe zwar mit 17 Jahren mal ein Jahr in Frankreich gelebt, aber natürlich viel von meinem Französisch vergessen. Es war also definitiv eine Herausforderung. Ich glaube aber, dass man sich selbst mit solchen Herausforderungen etwas Gutes tut – wenn man sie denn annimmt. Man ist dann auf seine Intuition angewiesen.
Inwiefern haben Sie bei »Elle« auf Ihre Intuition vertraut?
Normalerweise schaue ich mir vor dem Casting etwa die Schauspieler ganz genau an, gucke möglichst zwei bis drei ihrer Filme. Dafür war diesmal gar keine Zeit, das hätte den Produktionsprozess um Monate verzögert. Isabelle Huppert kannte ich natürlich, auch ein paar der Nebendarsteller. Aber größtenteils habe ich die Entscheidungen diesmal direkt nach dem Vorsprechen getroffen. Wir hatten Glück, dass so viele gute Schauspieler mit an Bord sein wollten, weil sie mit Isabelle zusammen arbeiten möchten. Jedenfalls hat das die Produktion von Anfang an zu einem Abenteuer gemacht – aber Abenteuer sind eben künstlerisch produktiv. Alles ist offen, man trifft Entscheidungen viel direkter. Angst macht erfinderisch – wenn man genug Zeit hätte nachzudenken, würde man vielleicht gar nicht erst anfangen.
Ursprünglich hatten Sie für den Film ja einen ganz anderen Plan...
Ja, der Film sollte in Amerika gedreht werden. Darum ging ich mit der Romanvorlage auch zu einem amerikanischen Drehbuchautor. Das Setting sollte von Paris nach Chicago verlegt werden, alles stand bereits fest. Nach einigen Monaten aber merkte ich: Das wird nicht funktionieren. Wir bekamen keine Finanzierung, keine Produzenten, aber vor allem: keine Hauptdarstellerin. Keine amerikanische Schauspielerin wollte die Figur der Michèle spielen. Letztlich bin ich so froh, dass der Film dann in Frankreich gedreht wurde. Wären wir in Hollywood geblieben, wäre »Elle« mit Sicherheit viel klischeehafter und banaler geworden.
Ihr Drehbuchautor David Birke hat vorher vor allem im Horrorgenre gearbeitet.
Ja, das wusste ich zunächst gar nicht. (lacht) Wir haben uns bei einem anderen Projekt kennengelernt, bei dem er mich sehr beeindruckt hat. Hätte ich gewusst, dass er all diese C-Movies geschrieben hat, hätte ich mir das vielleicht nochmal anders überlegt.
Wollten Sie »Elle« denn als Genrefilm inszenieren?
Nein, das wollte ich unbedingt vermeiden. Ich habe mich da sehr an Philippe Dijans Romanvorlage orientiert. Ein sehr schlaues Buch, mit einer cleveren Struktur, die nicht auf billige Tricks setzt. Nehmen Sie beispielsweise die erste Szene: Wie auch das Buch beginnt der Film mit dem Nachhall der Vergewaltigung der Hauptfigur. Das Verbrechen selbst sehen wir erst viel später im Film. Das wollte ich unbedingt übernehmen – mit der Vergewaltigung einzusteigen wäre mir viel zu platt erschienen. Das Gleiche lässt sich über die Einführung von Michèles Vater, einem Serienmörder, sagen: Man bekommt erst nach und nach Informationen über ihn, vieles bleibt zunächst unklar. Das geht alles auf Philippe Dijan zurück.
Nach der ersten Szene, die Sie erwähnt haben, sieht man die Hauptfigur zunächst einmal als Opfer des Films. Danach aber ändert sich alles komplett.
Für mich sagt diese erste Szene bereits alles über die Figur aus. Nach der Vergewaltigung räumt sie auf, wäscht sich – und bestellt dann Sushi. Ihren Freunden gegenüber spielt sie das Verbrechen vollkommen herunter. Sie will nicht als Opfer gesehen werden und sieht und fühlt sich vor allem selbst nicht als Opfer. Das macht diese Figur aus. Aber ich wollte im Film absichtlich nicht direkt die Verbindung von diesem Verhalten zu ihren traumatischen Erlebnissen als Jugendliche ziehen. Diese Lücke müssen die Zuschauer schon selbst schließen. »Elle« ist insofern der offenste Film meiner gesamten Karriere.
Können Sie das genauer erklären?
In »Black Book« sind die Handlungen der Figuren aus Sicht des Publikums jederzeit klar motiviert. In »Elle« aber wollten wir es vermeiden, ein psychologisch eindeutiges Bild der Protagonistin zu zeichnen, um nicht banal zu erscheinen. Wir geben zwar alle Informationen und erzeugen so einen kohärenten Charakter, aber dennoch bleiben gewisse Dinge offen. Man lernt Michèle nie vollständig kennen.
Erwarten Sie, dass der Film nach seiner Veröffentlichung Gegenstand kontroverser Diskussionen sein wird? Sie gehen mit dem hochemotionalen Thema Vergewaltigung ja sehr ungewöhnlich um...
In Amerika mit Sicherheit, in Europa ist das glaube ich kein Problem. Das Problem, das meiner Meinung nach auch viele amerikanische Schauspielerinnen von dem Stoff abgestoßen hat, ist, dass »Elle« kein Rachefilm ist. Der dritte Akt eines solchen Films ist in Amerika ja üblicherweise dem »Payback« vorbehalten – hier aber passiert eher das Gegenteil...
Manche Kritiker haben den Film als unmoralisch bezeichnet.
Es gibt ja auch keine Moral in dem Film. Diese Figuren agieren nun einmal so. Das erinnert mich fast ein wenig an Brecht, der in etwa gesagt hat, dass man das Sehen verlernt, wenn man sich mit Figuren identifiziert. In »Black Book« war das anders: Man folgt der Protagonistin von Anfang an und das ergibt auch Sinn. Hier aber wollten wir genau das verhindern.
Ist »Elle« für Sie eine Satire?
Nein. Ich habe diese Interpretation gelesen, aber ich hatte nicht die Absicht, satirisch zu wirken. In »Starship Troopers« war das genau meine Absicht, aber nicht hier. Ein Film, den ich während des Drehs im Kopf hatte, war »Die Regeln des Spiels« von Jean Renoir: Der Film war damals eine Enttäuschung, weil er sich nicht klar für Komödie oder Tragödie entschied. Jetzt ist er einer der größten Klassiker des französischen Kinos. Und er ist gewissermaßen auch unmoralisch. Moral zählt für mich nicht. Menschen verhalten sich ständig unmoralisch und denken nicht einmal darüber nach. Ich will darüber nicht urteilen; ich finde, man sollte das nicht tun. Es gibt schon genug moralisches Aburteilen, im Kino genauso wie in der Bibel – das wollte ich genau nicht machen.
Sie erlauben sich aber dennoch einen kleinen gesellschaftskritischen Seitenhieb auf die Videospielbranche...
Wissen Sie, der Grund, warum das sexistische Videospiel auftaucht, an dem Michèle arbeitet, ist komplett banal. Im Buch ist sie die Chefin eines Kollektivs von TV-Drehbuchautoren. Das war mir für den Film einfach nicht visuell genug, darum suchte ich nach einer anderen Lösung. Auf die Idee kam dann meine Tochter. Da ich nichts von Videospielen verstehe, ging ich zu meinem Drehbuchautor David Birke, der sich glücklicherweise als totaler Games-Fan herausstellte. Damit war es dann entschieden. Eine eher pragmatische Entscheidung, die für Kritiker deutlich bedeutsamer ist als für mich.
Im Februar werden Sie als Präsident der Berlinale-Jury viele aktuelle Filme sehen und bewerten. Gehen Sie denn davon abgesehen noch oft ins Kino?
Nicht oft, aber hin und wieder. Viele neue Filme bekomme ich außerdem aufgrund meiner Mitgliedschaft in der Academy zu sehen. Aber ich habe die Aufgabe bei der Berlinale unter anderem angenommen, um zu sehen, in welche Richtung das Kino gerade geht. Man bekommt dort in kondensierter Form den internationalen Output des Jahres zu sehen und ist sozusagen »up to date«. Darum ist es mir nicht nur eine große Ehre, sondern auch eine große Freude, mit dabei zu sein. Der letzte Film, der mir im Kino richtig gut gefallen hat, war übrigens »Die Taschendiebin« aus Südkorea – eine sehr clevere Story.
Die Berlinale zeigt in diesem Jahr auch eine Retrospektive zur Science Fiction. Was sagen Sie als Experte denn zum aktuellen Stand dieses Genres? Gibt es noch gute Science-Fiction?
Nein. Leider nicht. Diese ganzen Superhelden-Filme und »Star Wars«-Fortsetzungen sind für mich keine innovative Fortführung des Genres. Das ist komplett ausgelaugt: Philip K. Dick wurde nun auch oft genug verfilmt und es scheint einfach nichts Gutes nachzukommen
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