Interview mit Michael Dudok de Wit über seinen Film »Die rote Schildkröte«
»Die rote Schildkröte« (2016). © Universum Film
Zuschauer, die sich mit Animationsfilmen auskennen, werden sicherlich überrascht sein, zu Beginn Ihres Films das Logo der berühmten japanischen Animationsfilmfirma Studio Ghibli zu sehen. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
Isao Takahata und Hayao Miyazake hatte ich schon vor längerem kennengelernt. Das war jedes Mal ein höflicher Austausch, der mich in keinster Weise darauf vorbereitete, was dann passierte: sie schrieben mir einen Brief, ob ich für sie arbeiten wollte. Sie setzten hinzu, dass sie nicht wüssten, ob es funktionieren würde, aber sie wollten es zumindest versuchen. Das erste, was ich tat, war, ihnen meine Synopsis für den Film zu schicken, der damals noch ziemlich anders aussah. Die gefiel ihnen, daraufhin schrieb ich innerhalb von zwei Monaten das Drehbuch. Ich kam nach Tokio, trug ihnen das Drehbuch vor und ließ es bei ihnen. Zu meiner Überraschung meinten sie, das sei so in Ordnung, einiges wäre vielleicht technisch nicht machbar, aber wir sollten uns jetzt zur nächsten Phase bewegen.
Sah das Drehbuch aus wie ein Drehbuch für einen Realfilm, oder bestand es aus Zeichnungen?
Nein, das war ein normales Drehbuch, so etwas ist auch bei einem Animationsfilm unumgänglich. Für mich war es spannend, es innerhalb kürzester Zeit zu verfassen. Es gab allerdings schon einige begleitende Zeichnungen, um einen visuellen Eindruck zu vermitteln. Dass das so schnell ging, gab mir die Zuversicht, dass wir das Drehbuch in einem halben Jahr fertig stellen könnten. Aber von da an ging es doch sehr viel langsamer voran.
Wann bekamen Sie denn den Brief von Studio Ghibli?
Das war Ende 2006. Im Januar 2007 begann ich mit dem Schreiben.
Haben Sie gefragt, ob sie zuvor schon einmal einen ausländischen Künstler angesprochen hatten?
Da war das erste, was ich fragte. Sie sagten »nein« und baten mich, zunächst einmal mit Wild Bunch Kontakt aufzunehmen, ihrem Koproduktionspartner in Paris. Denn wir machen diesen Film unter französische Gesetz – das beschützt nämlich die Autorenrechte, was unter japanischem Gesetz nicht so einfach ist. Die japanische Gesetzgebung steht dabei der US-amerikanischen näher, die eher den Produzenten schützt. Als ich den Vertreter von Wild Bunch in London traf, fragte ich ihn gleich, »Gibt es etwas, was ich noch nicht weiß?« und »Haben Sie das Angebot auch anderen Regisseuren gemacht, um am Ende einen daraus auszusuchen?« – »Nein, sie haben nur Sie gefragt, weil sie Ihren Kurzfilm »Father and Daughter« schätzen.«
Als ich im letzten Monat in Tokio war, fragte ein Journalist ebenfalls, »Haben Sie andere Regisseure gefragt? Schlägt Studio Ghibli eine neue Richtung ein?« Darauf antworteten sie, sie hätten das gemacht, weil sie meinen Kurzfilm mochten - dass ich kein Japaner sei, sei zweitrangig gewesen. Wenn Sie so etwas erneut machen würden, würden sie wiederum einen Regisseur ansprechen, denn der sei die kreative Kraft hinter einem Film.
Als Sie das Drehbuch schrieben, schwebte Ihnen da von vornherein ein universelles Thema vor, das japanische Zuschauer ebenso anspricht wie europäische?
Ein Teil von mir mag einfach den unterhaltenden Aspekt am Film, seinen Humor. Das gilt für meine ganz frühen Filme ebenso wie für die Werbung, die ich gemacht habe. Als ich anfing, Kurzfilme zu machen, stellte ich fest, dass ich weitergehende Ambitionen hatte: die Filme sollen unterhaltend sein, aber auch eine zeitlosere und hintergründigere Komponente enthalten.
Als Sie mit der Geschichte anfingen, war das ein Nullpunkt - oder konnten Sie auf Ideen zurückgreifen, die Sie vielleicht schon einmal für Kurzfilme im Kopf hatten, dort aber nicht umsetzten?
Ich verwende Ideen schon öfter, wie andere Künstler auch. Die Szene, wenn der Mann die Schildkrötenbabies anschaut, sollte eigentlich erst viel später im Film vorkommen, aber das funktionierte nicht, mir gefiel jedoch die Idee, so setzte ich die Szene ziemlich an den Beginn.
Die Idee, von einem Schiffbrüchigen, der auf einer einsamen Insel gestrandet ist, zu erzählen, ist nicht neu. Als Schüler schrieb ich einmal eine Geschichte über eine Schildkröte, die an Land kommt und wieder zurück ins Meer geht. Diese Idee gefiel mir damals – das kam hier zusammen mit dem Schiffbrüchigen. Daneben gibt es noch das Thema des Todes, das mich fasziniert, nicht der morbide Tod oder das Leiden, sondern der Tod selber.
Wie sind Sie mit Ihrer Ko-Autorin, der französischen Filmemacherin Pascale Ferran (»Lady Chatterley«), in Kontakt gekommen?
Ich kannte sie nicht, an einem bestimmten Punkt erklärten meine französischen Produzenten, ich brauche einen Ko-Autor, um bestimmte Probleme im Drehbuch zu lösen, die ich alleine nicht auf die Reihe bekommen hatte. Pascale meinte, wir könnten uns in verschiedene Richtungen bewegen, entweder mehr das Märchenhafte betonen oder aber die mythologischen Aspekte hervorheben. Das erste wäre mehr eine gradlinige Erzählung, das letztere eher eine verrätselte. Wir entschlossen uns für das letztgenannte, ich traf mich mit ihr, wir stellten fest, dass wir uns auf derselben Wellenlänge bewegten – sie besitzt etwas, das mir sehr wichtig war, sowohl ein Gefühl für die Story als auch eine ausgeprägte rationale Seite, was die Struktur und die Filmsprache anbelangt. Ich habe mir ihre Filme angesehen, die Sensibilität von »Lady Chatterley« gefiel mir, gerade auch ihr Umgang mit der Natur. Sie erzählte mir, dass die graphischen Details des Films alle vorher im Drehbuch festgelegt waren - sie ist ein Kontrollfreak. Sie schlug einige Änderungen vor, die sich als essentiell für die Geschichte erweisen sollte, ich war sehr beeindruckt von ihr, nicht zuletzt auch von der Geschwindigkeit ihrer Arbeitsweise.
Wie haben Sie mit ihr kommuniziert?
Wir haben uns 1-2mal die Woche in Paris getroffen und sind den Film Bild für Bild durchgegangen. Sie schrieb dann Szenen um, während ich an meinen Zeichnungen weiterarbeitete.
Inwieweit haben Sie bei »Die rote Schildkröte« auch mit einem Computer gearbeitet?
Der Film wurde handgezeichnet, aber anstelle einen Bleistift und Papier zu verwenden, habe ich direkt auf einem Computerbildschirm gezeichnet. Das erlaubt es, auf Details der Zeichnung heranzuzoomen und anderes zu machen, insofern ist das Digitale ein sinnvolles Handwerkszeug. Einige Spezialeffekte, etwa den strömenden Regen, haben wir ebenfalls digital gestaltet, Baumzweige wurden handgezeichnet, aber ihre Bewegung im Wind wurde digital erzeugt. Die Schildkröten wurden gänzlich digital gemacht, denn mit ihren langsamen Bewegungen wären sie bei Handzeichnung instabil gewesen. Die Flöße wurden digital konzipiert, denn sie waren sehr detailreich.
Sie erwähnten gestern, dass Animation für Sie eine Berufung sei. Können Sie etwas über ihre frühen Erfahrungen als Zuschauer erzählen?
Das war nicht Disney, wie bei vielen anderen. Ich bin Jahrgang 1953, damals gab es bei weitem nicht so viele Animationsfilme wie heute. Es war auch nicht die Fernsehserie »Familie Feuerstein« – die liebte ich, allerdings nur als naiver Zuschauer, sie eröffnete mir keine Perspektiven, selber in dieser Richtung aktiv zu werden. Es war auch nicht »Tom & Jerry«, überhaupt nicht die amerikanischen Produktionen, sondern die aus Osteuropa, besonders aus Jugoslawien, die ich erst sah, als ich schon 18 war. Die haben wirklich etwas in mir berührt, einige waren sehr düster und sehr symbolhaft.
Einige Ihrer Werbespots kann man auf YouTube sehen. Wenn Sie dafür angesprochen werden, wollen die Auftraggeber dann eine Arbeit, die im Stil Ihrer Kurzfilme ist?
Erst in letzter Zeit. Vorher kamen die Agenturen zu dem Studio in London, das dann manchmal mich ansprach. Als Mitarbeiter des Studios blieb meine Arbeit dabei anonym. Das änderte sich mit dem Erfolg meines Kurzfilms »Father and Daughter«. Innerhalb eines Monats, nachdem er einen »Oscar« gewann, kamen Anfragen an mich.
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