Kritik zu Die rote Schildkröte
Der Schiffbrüchige und die Schildkröte: Der Niederländer Michael Dudok de Witt hat in Zusammenarbeit mit dem japanischen Studio Ghibli einen
fesselnden Animationsfilm geschaffen, der ohne Dialoge auskommt
Vor den Bildern kommen die Töne: das Rauschen des Meeres, kraftvoll, auch bedrohlich. Ein Schiffbrüchiger kämpft in den Fluten um sein Überleben. An Land gespült, erkundet er die Gegend – und muss feststellen, dass er offenbar der einzige Mensch hier ist, auf einer Insel aus Sand, Fels und Wald. Er baut ein Floß, doch sobald er damit auf dem Wasser ist, wird es ein ums andere Mal attackiert und zerstört. Schließlich kann er den Angreifer identifizieren: eine gigantische rote Schildkröte – die ihm selber jedoch kein Haar krümmt. Als er ihr eines Tages an Land wieder begegnet, sind die Machtverhältnisse umgekehrt. Wird der Mann jetzt Rache nehmen?
Doch dann verwandelt sich die Schildkröte in eine junge Frau, und eine scheinbar andere Geschichte beginnt, Adam & Eva oder das Glück in der traditionellen Kleinfamilie mit Kind, das zum Halbwüchsigen heranreift. Wie wird das enden?
»Die rote Schildkröte« ist der erste abendfüllende Animationsfilm des gebürtigen Holländers Michael Dudok De Witt, der heute in Großbritannien lebt und arbeitet und für seine kurzen Animationsfilme mehrfach preisgekrönt wurde. Er ist in Zusammenarbeit mit der japanischen Animationsschmiede Studio Ghibli entstanden (das erste Mal, dass diese ihre Fühler außerhalb Japans ausstreckt), deren Regisseur Isao Takahata hier als »production executive« mitwirkt, während am Drehbuch die französische Filmemacherin Pascale Ferran (»Lady Chatterley«) mitgearbeitet hat.
Mit seinen überwiegend handgezeichneten Bildern ist »Die rote Schildkröte« ein radikaler Gegenentwurf zu all den neuen computeranimierten US-Animationsfilmen, die immer mehr auf pures Tempo setzen. Dieser Film dagegen lässt den Zuschauer das Vergehen von Zeit spüren; eine meditative Ruhe zeichnet ihn aus, die an Aquarelle erinnernden Bilder lassen Zeit, sich in ihnen umzusehen. Unterstützt wird das dadurch, dass der Film ganz ohne Dialoge auskommt. Er bleibt dadurch in vielem ambivalent, beschreibt das komplexe Verhältnis des Menschen zur Natur, die zwar faszinierend, aber eben auch zerstörerisch sein kann, er hat seine surrealen Momente (so wenn sich ein Streichquartett am Strand als Fata Morgana erweist) ebenso wie seine komischen (mit einer Gruppe kleiner, immer wieder auftauchender Strandkrabben) und vor allem jede Menge an poetischen Verdichtungen, die der Geschichte immer wieder eine parabelhafte Dimension verleihen.
Für seinen Kurzfilm »Father and Daughter« hat Michael Dudok de Witt im Jahr 2001 bereits einen Oscar erhalten. Mit diesem Film, der im vergangenen Jahr beim Festival von Cannes in der Sektion Certain Regard mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde, konnte er diesmal eine Nominierung in der Kategorie Animationsfilm erringen, wo er unter anderem mit dem Schweizer »Mein Leben als Zucchini« und Disneys »Zoomania« und »Moana« konkurriert.
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