Das 8. Lichter Filmfest International
»Sin & Illy Still Alive«
Haben oder nicht haben: Beim achten Lichter Filmfest in Frankfurt am Main ging es ums Geld. Ein Thema, das in der europäischen Finanzhauptstadt immer in der Luft liegt – selten jedoch so laut und deutlich wie in der Festival-Woche, als Rauch und Hubschrauber beim neuen EZB-Gebäude im Ostend aufstiegen. Umso wichtiger also die klare Positionierung des Festivals hin zum Dialog und weg vom Polarisieren.
Die Frankfurter Kaiserstraße ist ein Sinnbild für die Stadt und ihre fließenden Grenzen: Vom Bahnhofsviertel geht sie über in das Bankenviertel, von dort vorbei am Schauspiel Frankfurt, der Pforte zum Museumsufer, und dann hinein in das Konsumgebiet um die Zeil. Bahnhof, Banken, Kunst und Kommerz – all das hatte auch seinen Platz im Programm des Lichter Filmfests International. Dem Bahnhofsviertel kommt schon eine doppelte Bedeutung zu, denn es befindet sich im Wandel. Es gilt als hip, gehört aber nach wie vor auch dem Rotlicht und den Drogen. Ein Thema, das endlich mit vielen interessanten, wenngleich harten regionalen Kurzfilmen aufgegriffen wurde. U.a. vom Gewinnerfilm »Ein bisschen Normalität«. Entstanden als Bachelor-Arbeit an der Hochschule Mainz, ist »Ein bisschen Normalität« eine Dokumentation über eine junge, drogensüchtige Mutter – die aber in der Machart glamourös wirkt dank extremer Brennweiten.
Die meisten Beiträge finden sich abseits von Klischees, abseits der Stigmatisierung rund um die Drogenhauptstadt Europas. Auch im Langfilm-Wettbewerb konnte sich ein Film über zwei Fixer-Freundinnen aus dem Milieu behaupten, der diesjährige Preisträger für den besten Spielfilm »Sin & Illy Still Alive«. Hier ist der Bahnhof nicht einfach Kulisse, hier ist er glaubhaft die tägliche, triste Realität vieler Süchtiger. Es zeichnet sich also weiterhin der Trend ab, dass Spielfilme dokumentarisch inszeniert werden – und umgekehrt.
Mit Themen wie Sucht, Asylpolitik, Menschenhandel und Obdachlosigkeit positionierte sich das Festival in der Programmauswahl deutlich als ein soziales, die Erstverleihung des Courage-Preises für Mut, Toleranz und Zivilcourage unterstreicht dies (der Preis ging an Michel Klöfkorns Kurzfilm »Gewobenes Papier«). Ein Plädoyer für die Menschlichkeit ist »Beyond Punishment«, der in Saarbrücken schon den Max Ophüls Preis für den besten Dokumentarfilm gewinnen konnte. Angesiedelt zwischen Werner Herzogs »On Death Row« und Joshua Oppenheimers »The Act of Killing« konfrontiert Regisseur Hubertus Siegert Gefängnisinsassen mit ihren Taten und die Hinterbliebenen der Opfer mit den Tätern. Es ist ein komplexes Gebilde von Trauer und Unverständnis auch auf Seiten der Täter, das für sich steht, das keine Auswege anbietet. Bemerkenswert im Hinblick auf soziale Themen war auch Fernand Melgars Dokumentarfilm »L’Abri«, der letztes Jahr in Locarno Premiere feierte und nun endlich im Rhein-Main Gebiet zu sehen war. Es ist ein nüchterner Beitrag zur Notsituation so vieler Obdachloser, die man täglich sieht und doch nicht richtig wahrnimmt. »L’Abri« handelt von einer überlaufenen Notunterkunft in Lausanne und lief in der Schwerpunkt-Reihe »Geld«.
Der europäische Traum, die Hoffnung, in Europa Geld zu verdienen, ist in Frankfurt spürbar. Das Bahnhofsviertel grenzt ans Bankenviertel. Nirgends ist das Geld so sichtbar – man beachte nur das an Leuchtreklame erinnernde Euro-Zeichen vor der alten EZB. Das neue Gebäude der Europa-Banker thront glatt und unantastbar im Ostend weit weg vom Bankenviertel. Blockupy protestierte dagegen, und so wenige wussten, wogegen sie eigentlich sind. Das Thema Geld ist wichtig in dieser Stadt, und doch wird so selten außerhalb der Bankgebäude darüber geredet. Umso wichtiger also, dass auch ein Filmfestival Anlass sein kann, attac-Vertreter und Bundesbanker zusammenzubringen. "Money talks" in Frankfurt, endlich. Auch über das Verdienen mit Film und seiner Distribution gab es ein Panel, das dem Kino nach dem Kino auf den Grund gehen wollte. Ergebnis war, dass das Kino eine Zukunft hat. Wie es in in Griechenland weitergeht, dazu hatte man gleich zwei Filme im Programm, die die Krise auf eine persönliche Ebene holen: »Queen Antigone« und »A Blast«. Hintereinander programmiert als Double Feature zur Zukunft. Und gleichzeitig konnte man sich durch die Kunstsammlung der Bundesbank führen lassen, wenn man wollte.
Frankfurt ist nämlich auch eine Künstlerstadt, das Museumsufer direkt neben dem Bankenviertel, direkt neben dem Bahnhofsviertel. Und im Lichter-Programm mittendrin: Eine Videokunst-Ausstellung und viele Experimentalfilme boten nochmals eine neue Perspektive auf die Wahrheit des filmischen Sehens und vervollständigten ein rundum gelungenes achtes Festivaljahr. In Frankfurt und Offenbach finden sich zwei der wichtigsten Kunsthochschulen Deutschlands, HfG Offenbach Absolvent Götz Schauder gewann mit »Conduct!« den Preis für den besten Dokumentarfilm. Im unterhaltsamen »Arteholic« über den Kunst-Süchtigen Udo Kier sagt dann schließlich Städelschule-Professor Tobias Rehberger über die Stadt: "Frankfurt – das ist einfach ein bisschen mehr ‚no bullshit’." Recht hat er.
Die Preise im Überblick:
Bester Langfilm:
»Sin & Illy Still Alive« (Maria Hengge)»
»Conduct!« (Götz Schauder)
Bester regionaler Kurzfilm:
»Ein bisschen Normalität« (Michael Schaff und Thomas Toth)
Binding Publikumspreis:
»Carlo, Keep Swinging« (Elizabeth Ok)
Lichter Courage-Preis:
»Gewobenes Papier« (Michel Klöfkorn)
Lichter Art Award
»The Second of August« (Jonathan van Essche)
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