Die Historie muss ein Geheimnis bleiben
Foto: Christian Schulz
Christian Petzold über seinen Film Phoenix
Herr Petzold, Sie haben ein Director’s Statement veröffentlicht, in dem Sie von der Erfahrung des ersten Drehtages berichten: die Szene, in der sich Nina Hoss nach der Befreiung des Konzentrationslagers von den Toten erhebt, funktionierte nicht. War das eine eher überraschende Erfahrung für Sie?
Nicht so richtig. Die Tote sollte in Wirklichkeit überlebt haben, sich erheben und durch den Wald verschwinden. Nina erhob sich und ging in die Welt des Films, das war für mich wie ein Antikendrama, ich fand das Bild so schön und hatte mich darin verliebt. Als wir drehten, fragte ich mich: Was machen wir denn hier? Mache ich hier nicht alles falsch, alles, wogegen ich Kino mache? Setze ich nicht etwas ins Bild, was man nicht ins Bild setzen darf? Diese Anmaßung, die darin steckt. Da hatten wir zwei Stunden schon aufgebaut, alles war sehr professionell. Und trotzdem habe ich mich nach wenigen Stunden zurückgezogen, damit die anderen meine Selbstzweifel nicht sehen, und habe mich beschimpft. Und dann habe ich darüber nachgedacht, dass ich oft den ersten Drehtag wegschmeiße - bei Yella etwa hatten wir etwas gedreht, was völlig unsinnig war, ein Hitchcock-Zitat aus Marnie.
Die Szene ist also nicht gedreht worden?
Sogar geschnitten! Ich habe gesagt, dann lasst uns das zu Ende führen, damit es nicht nur so ein kurzer Spleen von mir ist – wir müssen es zu Ende führen, um zu wissen, warum es falsch ist.
Wird man die auf der DVD sehen können?
Das habe ich noch nicht entschieden.
Es wäre sicherlich interessant, denn andere würden das wohl eher verschweigen nach dem Motto: über unsere Fehler reden wir nicht.
Aber wir haben permanent über unsere Fehler geredet. Die Verbindung Holocaust und Vertigo, die Anmaßung, die in jedem Moment passieren kann, das Liebessspiel der beiden ist selber schon eine Gratwanderung, auch der Film als Ganzes. Damit man diese Balance hält, muss man ihn jeden Tag befragen. Bei Barbara wusste ich nach vier Tagen: das ist super – wie früher so Marxisten gesagt haben: der große Revolutionär ist der, der lehrt und nach drei Tagen gehen kann. Er muss sich überflüssig machen. Und dieses Überflüssigwerden, was bei vielen Filmen der Fall war, war bei diesem Film nicht möglich - von keinem von uns, wir alle waren in einer gewaltigen Anspannung. Der Kameramann musste immer zwischen dem Schwarzweiß des Noirs und der farbigen Fülle des Zelluloids den Weg finden. Wir waren alle diesmal nicht im Schullandheim. Für alle bedeutete dies längere Drehtage.
Es gab aber auch noch einen Probenzeitraum vor Beginn?
Den gab es, wie immer, wo wir das Drehbuch kalt lesen, wo wir Filme angesehen haben, die ich ausgesucht hatte. Das war hier vor allem Jacques Demys Les demoiselles de Rochefort. Das haben wir angeschaut um zu sagen: Das ist ein jüdischer Regisseur in Frankreich. In diesem Film geht es auch um Algerien. Es gibt dort Soldaten, die aufmarschieren und trotzdem gibt es Liebe, Tanz, es gibt das Hollywood-Kino, es gibt Gene Kelly - und das ist alles, was wir in Deutschland nicht hatten. Wir hatten in den sechziger Jahren keinen Jacques Demy, keine Mademoiselles, wir hatten das nicht und wir machen einen Film, der davon erzählt, von der berühmten Stunde Null, da erfahren wir, warum das nicht möglich ist. In diesem Film gibt es Teile eines Musicals von Kurt Weill, Venus in Arms (das mit Ava Gardner verfilmt worden ist) und dieses Musical konnte in Deutschland nicht gedreht werden. Und wir machen einen Film in Deutschland, der an dieser Leerstelle spielt.
Sie haben schon Vertigo erwähnt. Damit begann die Geschichte dieses Films…
Ja, mit dem Vertigo-Heft der ‚Filmkritik’ 1980. Darin gab es einen Text von Harun Farocki, Vertauschte Frauen, in dem auch der Roman "Le retour des cembres" von Hubert Monteilhet vorkam. Das ist ein großes Thema: die Frauen, die herausgefallen sind, weil sie unabhängig sein wollen und jetzt alleine sind, weil sie keinen Ort mehr finden - deren Kraft, deren Energie, deren letztes Aufbäumen, um wieder zurück zu finden in so etwas wie Leben.
Der 1961 im Original und ein Jahr später in deutscher Übersetzung erschienene Roman wurde bereits 1965 verfilmt…
Das wollte ich nicht sehen, mich hat nur der Plot-Mechanismus interessiert. Der Roman ist in Tagebuchform einer sehr eloquenten Ärztin erzählt, diese Form ist in Frankreich ein anerkanntes Literaturgenre – das können wir nicht einfach auf das Kino übertragen. Auch nicht die Frau, die ihre alten Bildungsbürgerfreunde trifft und in dieses Milieu zurückkehrt. Das hat mich jahrelang davon abgehalten, das überhaupt zu realisieren, bis wir dann bei Barbara die Ärztin und den Arzt gesehen haben. Harun Farocki war so begeistert von dem Spiel von Nina Hoss und Ronald Zehrfeld, von ihrer Physis, von der Phantomhaftigkeit der Barbara, dass er sagte, lass uns das noch mal rausholen und anders denken. Dann kamen wir auf Lotte Lenya und Kurt Weill – eine Sängerin und einen Musiker.
Aber die Rechte mussten Sie trotzdem erwerben?
Ja, der Autor lebt noch, er hat das Drehbuch gelesen und war ganz begeistert. Auch weil das Deutschland so anders war als das Frankreich, das er beschreibt. Er war Arzt gewesen und hatte Holocaust-Überlebende betreut. Daraus ist die Geschichte entstanden. Er war übrigens auch bekannt mit Boileau-Narcejac, die die Vorlage zu Vertigo verfasst hatten.
Waren diese Rollen für Nina Hoss und Roland Zehrfeld auch in gewisser Weise Fortsetzungen ihrer Figuren aus Barbara? Es geht ja auch hier um Misstrauen…
Das hatte ich mir gewünscht. Wir haben ja auch dort gedreht, wo Barbara entstand. Das Haus, wo hier der Biergarten wieder aufgebaut wird, ist das Haus des Arztes aus Barbara. Ich habe mir gedacht, das das Versprechen der Liebe in Barbara genügend Kraft birgt, um die zerstörte Liebe, um die es in Phoenix geht, durchzuhalten, dass die Sehnsucht aus Barbara sich durch Phoenix durchzieht. Aber der Gedanke war wohl nicht richtig, wir haben gemerkt, wir machen hier etwas anderes.
Die Figuren haben hier viel mehr Gepäck…
Ja, das Gepäck, das ihnen in Barbara von außen auferlegt wird, ist hier von innen in ihnen drin, das ist viel schwieriger. Ich musste den Schauspielern viel mehr Ruhe lassen.
Wenn Sie heute ein Drehbuch schreiben, haben Sie dann schon Nina Hoss im Kopf? Wie früh informieren Sie sie über Ihre Pläne?
Bei Barbara und bei Phoenix hatte ich sie sehr früh im Kopf und habe sie informiert, als es noch gar kein Drehbuch gab. Die Drehbucharbeit hat auch durch die Gespräche mit Nina gewonnen. Ich habe mit ihr gesprochen, bin dann wieder zu Harun Farocki, habe ihm erzählt, was Nina angemerkt hat.
Ihre letzten beiden Filme sind historische Filme, davor spielten alle in der Gegenwart. Ergab sich das daraus, dass die Vergangenheit ein größeres Nachdenken hinsichtlich Ihrer Darstellung erfordert? Oder hat sich das Interesse an der deutschen Vergangenheit erst entwickelt?
Das Interesse war immer da, aber die Angst, unter der ich eher am Ende des Autorenfilms gelitten habe, war eher die, dass dauernd Klassiker verfilmt und immer nur Schaubühnenschauspieler zu sehen waren. Ich dachte, wenn man in die Historie hineinkommt, dann ist man von diesen Bildern umgeben, man hat keine richtige Nachbarschaft. Schließlich begriff ich, wie ich mich der Historie nähern muss: ich muss sie mir erträumen und sie muss ein Geheimnis bleiben. Die Arbeit am Begreifen, das ist die Kinoarbeit.
Mit dem kürzlich verstorbenen Harun Farocki haben Sie seit längerem zusammengearbeitet…
Das begann schon bei meinem Zweitjahresfilm an der dffb. Wir haben uns zweimal die Woche getroffen, haben drei Stunden Kaffee getrunken und sind spazieren gegangen. Danach habe ich mich hingesetzt und geschrieben. Er hat gesagt, "Ich begleite Dich". Das ging kontinuierlich über die ganze Zeit; in Zeiten, wo ich nicht geschrieben habe, haben wir auch über seine Projekte geredet.
Phoenix haben Sie auf 35-mm-Filmmaterial gedreht. Ist das heutzutage schwer?
Ja, denn es gibt nicht mehr so viel Material. Kodak produziert jetzt wieder, auf Ansinnen von Martin Scorsese. Das Brutale ist, wenn ich mit Produzenten rede, die sagen, das kostet gar nicht so viel mehr – die Postproduktion beim Digitalen ist sehr viel teurer. Wenn man, wie ich, ein Drehverhältnis von 1:5 hat, kostet es sowieso kaum etwas. Es ist viel schöner, es arbeitet, auch die Hauttöne der Menschen sind viel menschlicher. Ich versuche, den nächsten Kinofilm noch mal auf 35 mm zu drehen. Die meisten Arbeitsschritte sind heute digital, ich möchte wenigstens einen Moment haben, wo ich die Welt riechen kann, sie muss eine Materialität haben, damit die Schauspieler das auch haben.
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