Die Ferne ganz nah
Das Crossing-Europe-Festival in Linz ist eine der wichtigsten Plattformen für junges europäisches Kino geworden. In diesem Jahr zeigte es faszinierende Einblicke in einen Kontinent, in dem Migration inzwischen den Normalfall darstellt
Die Bewegung ist dem Festival im Titel eingeschrieben. Seit zehn Jahren lädt Direktorin Christine Dollhofer nach Linz, um dort anhand von Filmen die verschiedensten Länder Europas zu durchqueren. Der Zuschauer bekommt hier nicht nur Einblicke in die Fremde, in diesem Jahr handelten die Filme besonders häufig auch selbst von Bewegungen. Früher charakterisierte man mit »mobil« ein Land wie die USA, während das alte Europa als sesshaft galt. Die in Linz präsentierten Filme aber zeigten Europa als einen Kontinent des permanenten Transits. Ob Spanien oder Litauen, Frankreich oder Kroatien, überall bricht gerade jemand auf, wenn andere gerade ankommen. »Migranten«, das sind längt nicht mehr nur die anderen.
Wo Long Distance im Abbilden großer Distanzen noch ganz die Sicht aufs Private beschränkte, ging die Spanierin Liliana Torres im Preisträgerfilm Family Tour (ex aequo mit Les Apaches) einen Schritt weiter. Vordergründig bildet ihr Film nur einen Heimatbesuch ab. Eine junge Frau kommt aus Mexiko für einige Wochen zur Familie nach Spanien zurück. Ihre Mutter drängt sie, mit ihr sämtliche Tanten, Onkel und Cousins abzufahren. Der Familienhintergrund ist eher proletarisch als bürgerlich, und so setzt sich aus diesen Ausflügen nach und nach ein Bild des heutigen Spaniens zusammen, wie man es nur selten zu sehen bekommt.
Dass eine Einschränkung der Perspektive auf eine Person keine Einschränkung der Komplexität bedeutet, bewies auch der Italiener Alberto Fasulo in seinem Roadmovie Tir: Darin sieht man zu 90 Prozent nur einen Helden, Branko aus Kroatien, auf seinen langen Fahrten durch Europa. Aus wenigen Begegnungen mit Trucker-Kollegen und Telefongesprächen mit der Familie erfährt man jedoch genug, um eine präzise Vorstellung von den sozialen Umständen zu bekommen, die ihn, den ehemaligen Lehrer, zu diesem anstrengenden und einsamen Job führten.
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