Kritik zu Wir könnten genauso gut tot sein

© eksystent Filmverleih

Der Eröffnungsfilm der diesjährigen Berlinale Sektion »Perspektive deutsches Kino« von Natalia Sinelnikova zeichnet gekonnt eine zerfallende Idylle

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Wohnhochhäuser haben im neueren Film meist eine unheimliche, mindestens jedoch eine befremdliche Aura, man erinnere sich an Thomas Stubers Serie »Hausen« oder an die brutalistische Architektur in Sophie Linnenbaums »The Ordinaries«. Aus den Wohntürmen am Rande der Stadt, die die Idee der Trabantenstadt aus den zwanziger Jahren aufgriffen, sind Orte des Schreckens geworden. Die junge deutsch-russische Regisseurin Natalia Sinelnikova nutzt in ihrem an der dffb entstandenen Debütfilm ein solches Hochhaus als Ort der Verheißung wie der Erschütterung. 

Das St. Phoebus ist eine gated community, am Waldrand, inmitten eines großen Golfplatzes, komplett umgeben von einem hohen Stacheldrahtzaun. Menschen suchen hier Zuflucht, in einer ziemlich weißen Gemeinschaft, und wovor sie flüchten, enthüllt der Film nie. Allerdings finden sie nicht einfach so Aufnahme, darüber entscheidet ein Komitee, nachdem Neuankömmlinge von der Sicherheitsbeauftragten Anna (Ioana Iakob) gecheckt und gescannt wurden. Aber es ist eine fragile Idylle, ein System der heimlichen und offenen Kontrolle. Das manifestiert sich im Innenleben des Hauses, dessen Wohnungen um ein Atrium gruppiert sind. Schon allein für dieses sprechende Architekturdetail muss man diesen Film mögen. 

Ins Wanken gerät das Gleichgewicht der Hausgemeinschaft durch das Verschwinden des Hausmeister-Hundes. Iris, die Tochter von Anna, glaubt, sie habe den »bösen Blick«, schließt sich im Badezimmer der Wohnung ein und kommuniziert mit ihrer Mutter nur durch die große Lüftungsöffnung der Tür. Was natürlich den anderen nicht verborgen bleibt. Anna und Iris sind keine gebürtigen Phoebus-Bewohner, sondern polnische Juden und erst vor sechs Jahren zugezogen. Nach einem weiteren Zwischenfall, den Anna aus Versehen selbst ausgelöst hat, formiert sich so etwas wie eine Bürgerwehr, bewaffnet mit Golfschlägern. Als Erstes muss ein junger Mann dran glauben, der im Heizungskeller lebt und im Fahrstuhl Bücher mit einem Bauchladen verkauft. Eine Atmosphäre von Angst (vor den etwaigen Eindringlingen) und Voreingenommenheit (gegenüber den eigenen Mitbewohnern) breitet sich aus. Die Sportlehrerin, eigentlich eine Freundin von Anna, unterrichtet nun Selbstverteidigung und wendet sich von ihr ab. Denn auch Annas Bleiberecht steht erneut auf dem Prüfstand. 

Man sieht die Unbehaglichkeit und Verzweiflung förmlich auf dem Gesicht der großartigen rumänischen Schauspielerin Ioana Jacob (»Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen« von Radu Jude). Und Anna verhält sich auch alles andere als aufrecht. »Wir könnten genauso gut tot sein« spielt mit den Mitteln der Dystopie, allerdings ohne genaue Umstände zu benennen, was im Draußen passiert. Aber wer diesen Film als Parabel sieht, auf gesellschaftliche Mechanismen wie Ausgrenzung oder Konformitätszwang, liegt wahrscheinlich auch nicht schlecht. Die beklemmende, lehrstückhafte Atmosphäre jedenfalls hält der Film furios bis zum Schluss durch.

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