Kritik zu Wien vor der Nacht
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: Der französische Dokumentarist Robert Bober spürt in seinem Filmessay seinem Urgroßvater und der jüdischen Geistesgeschichte Wiens nach – und dem Antisemitismus
Das Heraufbeschwören einer vergangenen Welt hat immer etwas Künstliches, Synthetisches, Interpretierendes, Subjektives. Nicht umsonst beginnt »Wien vor der Nacht« mit der grandiosen Exposition aus »Der Reigen« (1950) von Max Ophüls, in der Adolf Wohlbrück als Erzähler von der Gegenwart in die Vergangenheit wechselt, auf einer Studiobühne, die sich auch durch eine herumstehende Kamera als solche zu erkennen gibt, mit Hintersetzern, die das Panorama der Stadt Wien zeigen, unterlegt mit dem Ohrwurm der »Reigenwalzer« von Oscar Straus. Wohlbrück tauscht seinen Trenchcoat gegen ein Cape – und ist, schwuppdiwupp, im Wien des Jahres 1900.
In dieser Zeit ist auch der Urgroßvater des Regisseurs Robert Bober nach Wien gekommen. 1904 ging Wolf Leib Fraenkel fort aus seiner polnischen Heimatstadt Przemysl, um in die USA auszuwandern. Doch aufgrund einer Krankheit wies man ihn auf Ellis Island zurück, und er siedelte sich, diesmal mit seiner Familie, in der Wiener Leopoldstadt an. Über Ellis Island, die Insel der Auswanderer vor den Toren New Yorks, hat Bober, der auch bei drei Filmen von François Truffaut dessen Assistent war, in den späten Siebzigerjahren einen Film gemacht.
Wien war nach der Jahrhundertwende nicht nur multikulturell geprägt, sondern auch ein Zentrum jüdischen Lebens. Bober, der zwei Jahre nach dem Tod seines Urgroßvaters geboren ist, 1931, ihn also nicht persönlich kannte, unternimmt in seinem Essayfilm so etwas wie eine Spurensuche. Aber es ist ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen, nach Lebenszeichen zu suchen – viel ist über den Urgroßvater nicht bekannt, er war Blechschmied, vor allem für jüdische religiöse Gegenstände. Ein paar Fotos haben den Holocaust überdauert, auf einem ist der Großvater mit seiner symmetrisch aufgestellten Familie zu sehen.
Aber der Film ist sowieso mehr als Blick in ein untergegangenes jüdisches Geistesleben angelegt, eine Suche nach der verlorenen
Zeit. »Die Welt von Gestern« heißt die berühmte Autobiografie von Stefan Zweig, der in diesem Film genau wie Arthur Schnitzler oder Joseph Roth zu Wort kommt. Die Erkenntnisse dieses Films finden dann auch eher auf der Ton- denn auf der Bildebene statt, wenn Bober durch Wien wandert, auf dem Grab seines Urgroßvaters einen Stein niederlegt oder durch den menschenleeren Prater streift. Es sind lange, ruhige, melancholische Einstellungen, unterlegt mit einer Stimme, die sich selbst Erzähler nennt. Manoel de Oliveira hat in seinem Film über seine Heimatstadt, »Porto – Stadt meiner Kindheit«, eine ähnliche Methode verwendet.
Bober ist nach Wien zurückgekehrt, heißt es einmal in dem Film, weil die Vergangenheit der Erinnerung bedarf und die Toten unserer Treue. »Wien vor der Nacht« ist auch ein Ausflug ins antisemitische Wien. Bober verteilt an die Besucher eines Cafés antisemitische Nazizeitungen, ein gespenstisches Bild, sie in den Händen moderner Menschen zu sehen. Und er zeigt den Abschiedsbrief von Stefan Zweig, der den Freitod wählt, »nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selbst vernichtet.«
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