Kritik zu Who's Afraid of Alice Miller?
Daniel Howald begleitet Martin Miller und seine Cousine Irenka Taurek auf eine Entdeckungsreise in die Familienvergangenheit und deren lang nachwirkende Geheimnisse
Eine miniaturhaft zierliche schwarzhaarige Frau und ein riesengroßer graublonder Mann räkeln sich nach ein paar Schritten auf einer weiten Freifläche neben ihrem Auto. Der Kontrast suggeriert kommende Slapstickkomik. Doch die beiden, die nach ein paar Sätzen in schweizerischem Deutsch in einem schwarzen Daimler davonfahren, meinen es ernst. Sie ist die US-amerikanische Psychotherapeutin Irenka Taurek. Er ihr in der Schweiz lebender Kollege und Cousin Martin Miller. Zusammengebracht hat sie ihre Familiengeschichte. Konkret: das Leiden von Martin Miller an den Traumata seiner Kindheit und Jugend. Das Besondere daran: Seine Mutter ist die Psychotherapeutin Alice Miller, deren Bücher in den 1980er Jahren ein Muss für jedes studentische Bücherregal waren. Darin warb sie mit Verve für Kinderrechte und eine gewaltfreie Erziehung.
Nach ihrem Tod meldete sich 2013 Sohn Martin mit einem Buch, das im Titel an Alice Millers Debüt anknüpfte: »Das wahre Drama des begabten Kindes« wies eindringlich, aber ganz ohne anklagenden Gestus darauf hin, wie die Erziehungspraxis seiner Mutter drastisch an den Maßstäben ihrer Theorie gescheitert war – und er schwere väterliche Gewalt und mütterliche Missachtung erlitten hatte. Als Ursachen vermutete er Verfolgungstraumata der 1923 als Tochter einer orthodox-jüdischen Familie im polnischen Pjotrków geborenen Mutter, die während der deutschen Besatzung unter falscher Identität hatte überleben müssen.
In der Familie sei diese Vergangenheit nie Thema gewesen, sagt der Sohn – ein fast klassisches Beispiel für Abspaltung und Verdrängung. Der Film greift die Konstellation des Buchs auf und führt sie mit Martin Miller und Irenka Taurek im Zentrum filmisch weiter. Räumlich geht er auf Reise erst zu Alice Millers Traumatherapeut Oliver Schubbe in Berlin (den die 2010 Verstorbene interessanterweise für die Zeit nach ihrem Tod von der Schweigepflicht entbunden hatte) und dann nach Polen, wo die beiden weitere überlebende Mitglieder der Familie treffen und in verschiedenen Archiven recherchieren.
»Ich bringe die Gefühle meiner Eltern zurück nach Polen und kehre mit meinen eigenen zurück nach Hause«, erläutert Martin Miller sein Programm dieser Reise. Dabei gerät mit der Aufdeckung einiger Legenden zunehmend auch Martins Vater Andreas in den Fokus, der (als Katholik) aus der gleichen Region wie seine Frau in die Schweiz gekommen und später eine bedeutende Figur im Schweizer Wissenschaftsbetrieb geworden war.
Regisseur Daniel Howald findet starke und vielschichtige Bilder, und es gelingt ihm ähnlich bravourös wie seinem Protagonisten (»Ich kann es nicht akzeptieren, aber verstehen«), Wahrheiten nachzuspüren, ohne dabei in Be- oder Entschuldigungen zu verfallen. Ein Film, der viel über Familiengeheimnisse und Traumata durch die Generationen erzählt. Alice Millers psychologische Thesen werden dabei durch die Verankerung in ihrer eigenen Lebenserfahrung noch verstärkt.
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