Kritik zu Vortex
Letzte Szenen einer Ehe: Gaspar Noé erzählt vom Leben und Sterben mit Alzheimer, mit Dario Argento und Françoise Lebrun in den Hauptrollen
Ein Mann und eine Frau liegen schlafend im Bett. Er hat ihr zwar den Rücken zugewendet. Aber ihre jahrzehntelange Vertrautheit ist dennoch beinahe greifbar. Ihre Hand liegt sanft auf seinem Oberarm. Eine Geste der Zärtlichkeit und der Versicherung. Es ist alles, wie es sein soll. Doch in dem Moment, in dem sie erwacht und zunächst ein paar Mal blinzelt, geschieht etwas. Es deutet sich in ihrem Blick, in ihrer Haltung an. Sie scheint nicht ganz sie selbst zu sein. Ihre Hand ruht weiterhin auf dem Arm ihres Mannes, aber plötzlich schwingt Unsicherheit mit.
In diesem kurzen Augenblick nach dem Erwachen der von Françoise Lebrun gespielten Frau geschieht noch etwas anderes. Ein schmaler schwarzer Balken schiebt sich vom oberen Bildrand kommend zwischen das liegende Ehepaar. Als er schließlich ihre Hand auf seinem Arm erreicht, nimmt sie sie weg, ohne dass sich eindeutig sagen lässt, was nun Ursache und was Wirkung ist. Der Balken trennt sie und ihn, zugleich teilt er die Leinwand: Splitscreen. Ein Riss, der nicht zu überwinden ist.
Später werden sich die parallelen Bilder gelegentlich auch mal überlappen. Dann drängt wenigstens ein Teil des Körpers der Frau, einer früheren Psychiaterin, oder des von Dario Argento verkörperten Mannes, eines Filmkritikers, in den Bildkader des anderen ein. Wirklich zusammen kommen sie aber nicht mehr. Aus dem Leben zu zweit wird durch ihre Krankheit ein gemeinsames Nebeneinander.
»Für alle, deren Gehirn sich früher zersetzen wird als ihr Herz.« Diese Widmung hat Gaspar Noé »Vortex« vorangestellt. Aus ihr spricht eine fast schon grenzenlose Zärtlichkeit. Dennoch lässt sie keinen Spielraum für Illusionen. Dass sich das Hirn zersetzt, während das Herz kräftig weiterschlägt, ist eine bittere Realität, der sich letztlich alle Menschen stellen müssen. Nicht jede erkrankt im Alter an Demenz oder Alzheimer. Aber die Möglichkeit steht immer im Raum. Und es ist dieses Wissen, dass »Vortex« von Anfang an durchdringt. Noch bevor aus dem einen Bildkader, der das Ehepaar um die 80 vereint, zwei gegenläufige Bilderzählungen werden, füllt eine alte Fernsehaufnahme von Françoise Hardy das Bild. »Mon amie la rose« singt die zum Zeitpunkt der Aufnahme gerade erst 21-jährige Chansonsängerin und schwelgt dabei in melancholischen Bildern der Vergänglichkeit. Nicht nur die Rose lässt über Nacht ihren Kopf hängen und beginnt zu verschwinden. Auch den Menschen kann es so ergehen.
Françoise Lebrun, die einst in Jean Eustaches »Die Mama und die Hure« Teil einer der verstörendsten Dreiecksgeschichten des französischen Kinos war, ist in Gaspar Noés Sicht auf das Alter die von Françoise Hardy besungene Rose. »Vortex« gleicht einer filmischen Liebeserklärung an ihre Schönheit und an die Dornen, die auch zu dieser Schönheit gehören. Und Lebruns Darstellung einer Frau, deren Gehirn sich stetig zersetzt, die ihre Sprache verliert und in den klaren Momenten, die ihr bleiben, eben daran verzweifelt, ist schier atemberaubend. Wie ihr Blick plötzlich ins Leere zu gehen scheint, wie ihre Hände sich praktisch selbstständig machen, während sie sonst nahezu reglos dasitzt, all diese kleinen Momente und Gesten fügen sich zu einem überwältigenden Porträt des Vergehens zusammen.
Dario Argento und Alex Lutz, der den drogensüchtigen Sohn der beiden spielt, agieren nicht weniger eindrucksvoll, auch wenn ihre Rollen als Sorgende und dabei immer wieder Scheiternde ihnen nicht ganz so viel Spielraum lassen wie Lebrun. Trotzdem kommt nicht einen Moment lang der Eindruck des Konventionellen, der so viele andere Filme prägt, die um das Altern und seine Folgen für eine Familie kreisen. Gaspar Noé hat »Vortex« nur mit einem längeren Exposé realisiert. Ein klassisches Drehbuch gab es nicht. Alle Szenen sind aus Improvisationen heraus entstanden, und das verleiht ihnen eine Unmittelbarkeit, die selten im Kino geworden ist.
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