Kritik zu Victim

© Rapid Eye Movies

Michal Blaško arbeitet sich an aktuellen Themen ab: Rassismus, Fake News und politischer Instrumentalisierung von Täter-Opfer-Narrativen

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Wer ist hier das titelgebende Opfer? Die Antwort scheint zunächst auf der Hand zu liegen: die Ukrainerin Irina (Vita Smachelyuk), die sich gleich zu Filmbeginn aus einem im Stau stehenden Bus drängt, um als Anhalterin schnell weiterzukommen, ebenso ihr Sohn Igor (Gleb Kuchuk), der schwerverletzt im Krankenhaus in der tschechischen Kleinstadt liegt, in der die beiden leben. Er sei nachts von drei Jugendlichen überfallen worden, sagt der 13-Jährige dem ermittelnden Polizisten (Igor Chmela). »Weiße?« –Igor verneint, und schnell gerät einer der Jungs der benachbarten Roma-Familie ins Visier und wird festgenommen.

Der slowakische Regisseur Michal Blaško hat mit »Victim« einen modernen neorealistischen Film gedreht, der sich in beinahe schon dröger Nüchternheit an Themen unserer Zeit abarbeitet: an Rassismus, Fake News und politischer Instrumentalisierung von Täter-Opfer-Narrativen. Mit dokumentarisch blassen Bildern folgt die Kamera von Adam Mach der Heldin bei dem Versuch, ihr Glück zu machen. Kein Leichtes, Irinas erstes Einbürgerungsgesuch wurde wegen Kleinigkeiten abgelehnt, sie begegnet Fremdenfeindlichkeit und verdient schlecht beim Reinigungsdienst. Hoffnungen setzt sie in den Friseursalon, den sie mit einer Freundin eröffnen will. 

Da scheint die Solidarität, die ihr und ihrem langsam wieder auf die Beine kommenden Sohn entgegengebracht wird, das Glück im Unglück zu sein: Ein lokaler Sportler und Aktivist organisiert einen Solidaritätsmarsch für Igor und verhilft Irina zu einem Fernsehinterview, und auch die Bürgermeisterin des von Plattenbauten gesäumten Städtchens zeigt sich solidarisch und vermittelt eine städtisch bezuschusste neue Wohnung – für sie vor allem eine Marketing-Kampagne. Aber man gönnt es Irina und ihrem Sohn, der seiner Passion, dem Sportturnen, nicht mehr nachgehen kann, weil ihm eine Niere entnommen werden musste. Nur: Was ist hier wahr, was falsch und wer das eigentliche Opfer? Mit großer Ruhe eta­bliert Blaško eine Perspektive samt emphatischem Anker, um diese dann langsam, aber stetig zu verschieben. Man ist bei Irina, der alleinerziehenden Mutter im Hamsterrad, und folgt ihr dabei, wie sie sich schließlich in einem Dilemma zwischen Moral und Selbsterhaltung wiederfindet und zwischen die Fronten von Gesetz, dem Aktivisten mit seiner Neonazi-Gefolgschaft und der Öffentlichkeit gerät. Der Satz »Das Gesetz ist nicht auf der Seite der Opfer«, der bei der Kundgebung fällt, erscheint in »Victim« vieldeutig.

Michal Blaško dekliniert in seinem Spielfilmdebüt universelle Themen durch und stülpt diesen Universalitätsanspruch auch über Victim. Das führt unweigerlich dazu, dass die Figuren, bis auf Irina, die Vita Smachelyuk facettenreich spielt, so blass bleiben wie der gesellschaftliche Kontext, in den der Film aus den genannten Gründen bewusst nicht zu stark eingebettet wird. Ein kühl-kalkuliertes, kluges Debüt ist Victim dennoch. Und der Moment, in dem die tschechische Nationalhymne ertönt, ist ergreifend.

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