Kritik zu Unter Kontrolle
»Je undurchdringlicher ein Geheimnis, desto schöner ist es«, hat der amerikanische Filmemacher David Lynch einmal gesagt. Seine Tochter Jennifer empfindet offenbar genauso, wie sie in ihrem zweiten Regiewerk zeigt
Ganze 15 Jahre hat Jennifer Lynch als Regisseurin pausiert, seit sie 1993 mit ihrem Debüt »Boxing Helena« spektakulär scheiterte. Hauptdarstellerin Kim Basinger war aus dem Projekt ausgestiegen, in dem eine junge Frau ohne Arme und Beine in einer Amour fou mit einem Chirurgen verbunden war. Der fertige, am Ende mit Sherilyn Fenn besetzte Film bewies: Kim Basinger ist eine kluge Frau.
»Unter Kontrolle«, Lynchs zweiter Versuch, spielt mit einem großen Geheimnis, beschäftigt sich mit Gewalt und Sexualität, Eros und Thanatos. Zwei FBI-Agenten ermitteln in einem Serienmordfall und befragen nach einem Massaker auf einer einsamen Landstraße drei Zeugen: einen Polizisten, eine drogensüchtige junge Frau, ein achtjähriges Mädchen. Drei Zeugen, das bedeutet drei Wahrheiten, Ungereimtheiten und Widersprüche. Die beiden, von Julia Ormond und Bill Pullman gespielten Beamten haben alle Mühe, das Puzzle zusammenzusetzen. Peter Wunstorfs Kamera bebildert die Erinnerungen der Zeugen des Massakers, und zwar mit einer jeweils eigenen Bildsprache. Bobbi (Pell James) zum Beispiel steckt voller Kokain. Exaltierte, grobkörnige Aufnahmen spiegeln ihr Bewusstsein, ausgeflippt abrupte Kamerabewegungen simulieren den wirren Fluss ihrer Gedanken.
Gedanken. Jennifer Lynch versteht es, Alpträume zu inszenieren: mit gewalttätig anmutenden Schnitten, mit Todesschreien oder kreatürlichen Symbolen, toten Vögeln und Ratten. Natürlich schreckt die Tochter von David Lynch, der übrigens für »Unter Kontrolle« als Produzent zeichnet, auch vor plakativen, mit Liebe zum Detail ausgearbeiteten Gewaltexzessen nicht zurück. »Ist es nett oder angemessen, wenn es mir Spaß macht, Köpfe platzen zu lassen?«, reflektiert sie. Eine rhetorische Frage.
»Unter Kontrolle« überrascht immer wieder mit unerwarteten, in die Katastrophe weisenden Wendungen und einem harten Finale, das selbst David Lynch schockiert haben soll. Der wahre Horror des kleinen, atmosphärisch dichten Films liegt aber in der Psychopathologie der Figuren. Keiner, außer der kleinen Stephanie (Ryan Simpkins), erscheint vertrauenswürdig oder auch nur aufrichtig. In diesem Film tragen nicht nur die Killer Masken. Bill Pullman ist als FBI-Agent Hallaway angsteinflößend gut: psychisch labil, physisch nie ganz anwesend, ein Rätsel von einem Mann.
Lynchs Studie der Gewalt, der Lüge und Verstellung funktioniert nicht auf einer intellektuellen Ebene, da sie dem Thema nichts wirklich Neues hinzufügen kann. Doch sie erschafft ein Universum, in dem makabre Komik, unaussprechliche Grausamkeit und die Sehnsucht nach kindlicher Unschuld nicht voneinander zu trennen sind. Der Film entstand mit kleinem Budget auf den weiten Ebenen in der kanadischen Provinz Saskatchewan. Hier könnte das Ende der Welt sein, ein Ort, an dem die Gesetze der Zivilisation ausgedient haben. Solche Orte betritt auch der Kinozuschauer immer nur auf eigene Gefahr.
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