Kritik zu Unser Fluss... Unser Himmel
Porträt einer Nachbarschaft in Bagdad mit Menschen unterschiedlicher Religion und Herkunft im Winter 2006. Es ist die Zeit nach Saddam Hussein
»Der Irak ist wie ein kranker geliebter Mensch«, sagt die Schriftstellerin Sara (Darina Al Joundi), der es zunehmend schwerfällt, Worte zu finden zu ihrer Heimat, »den verlässt man nicht«. Und doch kann sie für sich keine Perspektive mehr sehen. Ihr Land ist zerrüttet. Der Sturz Saddam Husseins hat im Jahr 2006 eine eklatante Lücke hinterlassen, in der sich eine militante Gruppe organisiert, die Schiiten verfolgt und auf offener Straße tötet. Auch Mitarbeiter der amerikanischen Besatzungskräfte werden Opfer der Gewalt. Später wird sich diese militante Gruppe Isis nennen. Daneben lösen sich gesellschaftliche Regeln auf. Korruption bestimmt Wirtschaft und Politik, immer wieder kommt es zu häuslicher Gewalt. Gleichzeitig halten große Teile der Gesellschaft an alten Regeln fest, Frauen, die ihre gewalttätigen Männer verlassen, werden geächtet und von ihren Kindern getrennt, ohne dass sie etwas dagegen tun könnten. Immer wieder sieht man Leichen, die im öffentlichen Raum aufgehängt werden, und junge Menschen, die lachend Handyvideos davon machen.
In dieses Szenario bettet Maysoon Pachachi ihre fiktive Handlung: Sie stellt unterschiedliche Menschen einer Nachbarschaft in Bagdad vor, die weder besonders religiös noch besonders politisch versuchen, ihre Gemeinschaft zu erhalten und trotz täglicher Anschläge mit dem Leben zurechtzukommen. Sie kämpfen um Normalität und Nähe, lachen, weinen, trauern und hoffen miteinander. Denn langsam wird deutlich, was verloren wurde, was bleibt und was die Zukunft bringen könnte.
Über allem schwebt eine unbestimmte alltägliche Angst. In einem ruhigen, in Anbetracht der Lage erstaunlich unaufgeregten Ton erzählt Maysoon Pachachi ihre kleinen Geschichten. Sie schaut den Menschen zu, die nach Orientierung suchen, und man weiß, innerhalb der Handlung werden sie kein eindeutiges Ziel formulieren können. Bis heute hat der Irak sein Gleichgewicht nicht gefunden, obwohl er aus den Nachrichten weitestgehend verschwunden ist. Indem sie das Private öffentlich macht, hat Pachachi einen ebenso emotional wie politisch wirksamen Film gedreht.
Das Filmland Irak ist für die meisten Kinogänger ein weißer Fleck. Man weiß wenig über Finanzierungsmöglichkeiten und Zensur. Maysoon Pachachi schaut aus dem Exil auf ihre Heimat. Sie lebt, arbeitet und unterrichtet in Großbritannien und setzt sich in vielerlei Hinsicht für die Rechte von Frauen ein. So erklärt sich die starke Konzentration auf Frauen in ihrem Film, denn in einer nachhaltig männerdominierten Gesellschaft sind vor allem Frauen die Leidtragenden. Und diese Frauen können oft nicht ins Exil gehen, sie sind gebunden, finanziell wie emotional, unfrei in ihren Entscheidungen. Auch Sara überlegt, mit ihrer Tochter zu fliehen, ein Leben im Ausland aufzubauen. Am Schluss sehen wir in einer wunderbar friedlichen Großaufnahme, wie Sara mit ihrer Tochter über den Tigris fährt, dem schlammig braunen Herzen Bagdads, und voller Wehmut sagt: Es ist auch unser Fluss, unser Himmel.
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