Kritik zu Tulpan
In seinen besten Momenten bricht nichts weniger als das Leben selbst sich seinen Weg in die Geschichte von »Tulpan«, dem preisgekrönten Spielfilmdebüt von Sergey Dvortsevoy
Die Filmfestivals in Westeuropa haben sie ins Herz geschlossen, die Filme aus fernen Steppenlandschaften, in denen der Himmel besonders hoch und weit auszufallen scheint und der Mensch darunter sich mit harten Witterungen, mürrischem Vieh und sturer Verwandschaft herumzuschlagen hat. Was sich ein weiteres Mal hier an »Tulpan« zeigt, der in der Steppe Kasachstans spielt und letztes Jahr in Cannes ausgezeichnet wurde.
Wieder zupft der Wind beharrlich an den Jurten, und wieder lärmen Schafe so laut, dass sie es im Dezibelmesser mit jedem Autobahnzubringer aufnehmen könnten. Auch hier geht es um die Tradition, die Liebe zum Land und schließlich um die Ökonomie der Beziehungen. Der gelernte Matrose Ashkat (Askhat Kuchinchirekov) möchte der Familie seiner Schwester Samal nicht länger zur Last fallen. Er will sein eigener Herr sein und eine eigene Schafherde durch die Weite treiben. Dazu muss er heiraten, und in der ganzen Steppe gibt es nur ein einziges freies Mädchen: Tulpan. Doch Tulpan hat andere Pläne. Sie will in die Stadt, ein Zimmer mieten, studieren und nicht länger mit ihrer Nomadenfamilie kreuz und quer durch die Pampa ziehen. Kein Kronleuchter, kein Teppich, kein Kochtopf, überhaupt keines der Brautgeschenke, mit denen Ashkat um die Eigenwillige wirbt, können sie umstimmen. Und als der hartnäckige Werber seine Heiratsabsichten immer noch nicht in den Wind schreiben will, führt sie ein allerletztes Gegenargument ins Feld: Ashkats abstehende Ohren.
Das Schöne an »Tulpan«, dem ersten Langspielfilm des bereits preisgekrönten Dokumentarfilmers Sergey Dvortsevoy, ist, dass die titelgebende Figur nie zu sehen ist. Sie bleibt wie die Mythen und Helden ihres Volkes ein Wesen reiner Vorstellungkraft. Und in ihrem Fall ein erstaunlich emanzipiertes und selbstbewusstes dazu. Überhaupt hat der gesamte Film herzlich wenig mit folkloristischen Schauwerten am Hut. Selbst Ashkat ist alles andere als ein handfester Vorzeigenomade. Beim Schafehüten stellt er sich so dämlich an, das niemand aus seiner Familie verstehen kann, warum der Tölpel ausgerechnet in dieser Tätigkeit seine Berufung gefunden haben will. Und als er einmal allein in einer minutenlangen dokumentarischen Einstellung einem Tier Geburtshilfe leistet, bricht mit dem Lammköpfchen eine Wirklichkeit in die Geschichte hinein, die alle komödiantischen Schrulligkeiten, mit denen »Tulpan« durchaus auch kokettiert, verdrängt.
Das, was man sieht, nämlich einen jungen Kerl, der aller Tölpeligkeit zum Trotz so gerne in der alten Kultur seines Volkes leben möchte; und das, was man nicht sieht, eben Hirtentochter Tulpan, die der ewigen Steppe entkommen möchte, stellt Tradition und Moderne in eine schöne Dialektik. Landliebe, Stadtflucht und schließlich der ganze komplizierte Kosmos, der zwischen beidem liegt. Und wenn der aufgekratzte Wasserlieferant Beke zu Boney M.'s »Rivers of Babylon« mit seinem rostigen Vehikel durch die Steppe knattert oder Ashkat mit seinen Pornoheftchen beeindrucken will, wird klar, dass die Zivilisiertheit der Städte auch ihre erbärmlichen Seiten hat.
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