Kritik zu Titos Brille
Bella ciao, ciao, ciao: Adriana Altaras reist zu den Orten der Vergangenheit ihrer Familie – von Berlin über Gießen bis nach Kroatien
Adriana Altaras ist Schauspielerin, man kennt sie aus den Filmen von Rudolf Thome und Dani Levy. Geboren ist Adriana Altaras in Zagreb, aber aufgewachsen in der Bundesrepublik. Und mit der Geschichte von »Titos Brille« hat es Folgendes auf sich: Ihr Vater Jakob kämpfte während des Zweiten Weltkriegs bei Titos Partisanen gegen die Deutschen. Als sich im Jahr 1944 die Partisanen in den kroatischen Bergen verschanzt haben, ging die Brille des Marschalls kaputt. Und Jakob Altaras, so hat er seiner Tochter erzählt, soll die Brille repariert und die Partisanen den Kampf gewonnen haben. Der Vater wird zum Held, auch in der Familie – bis die Tochter realisiert, dass Tito in der fraglichen Zeit gar keine Brille getragen hat. Das Wort Held fällt in diesem Film noch öfter, wenn auch äußerst süffisant . . .
Diese Geschichte aus einer »strapaziösen Familie« – wie der Untertitel des »Titos Brille« zugrundeliegenden Buchs lautet – ist so etwas wie ein Paradigma für den charmanten Film von Regina Schilling, den Dokumentarfilm zu nennen etwas zu kurz greifen würde. Es geht um Legenden und Lügen in der Familie, Mythen in der Gesellschaft, die Spuren der Vergangenheit und die Verwerfungen des mordlüsternen 20. Jahrhunderts. In ihrem Buch unternahm Altaras eine Reise zu den Stationen ihres Lebens und ihrer Familie. Und begleitet von Regina Schilling unternimmt sie diese Reise jetzt noch einmal, im alten Mercedes ihres Vaters.
Sie kommt nach Gießen, wo ihr Vater Professor an der Universität war und ihre Mutter in den siebziger Jahren die Jüdische Gemeinde (wieder) gründete, sie erzählt von den Säuberungen im Jugoslawien der sechziger Jahre, denen auch Jakob Altaras zum Opfer fiel. Der setzte sich ins Ausland ab, das Kind wurde erst einmal nach Italien geschmuggelt. Sie besucht das ehemalige KZ Kampor auf der Insel Rab, wohin ihre Mutter von den Italienern deportiert war. The world according to Adriana Altaras: natürlich ist dieser Film eine One-Woman-Show. Aber eine vergnügliche und ungemein aufklärerische. Durch vier Länder und fast ein Jahrhundert Geschichte, mit Familienfotos und -filmen und Archivmaterial. Einmal zieht sie die alte Partisanen-Uniform ihres Vaters an, in einem Bergversteck, und das alte Partisanenlied »Bella ciao« ertönt. Die Partisanen gehörten zum mythologischen Selbstverständnis des Vielvölkerstaats Jugoslawien. Adriana Altaras hat selbst in einem Partisanenfilm mitgespielt, in Nikoletina Bursac von Branko Bauer. In dem bewegenden Ausschnitt ist sie ein kleines jüdisches Mädchen, deren Eltern von den Besatzern abtransportiert wurden. Premiere war am 7. Mai 1964, aber da war die Familie schon mit ihrer Emigration beschäftigt. Altaras trägt diesen Film. Aber bei allem Witz und aller Schlagfertigkeit und der Selbstinszenierungslust der Schauspielerin: Es gelingt ihr immer, ihre eigene verästelte Familiengeschichte als Teil der Tragik der großen historischen und ideologischen Katastrophen der letzten Jahrzehnte einzuordnen.
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