Kritik zu They Shall Not Grow Old

OmU © Warner Bros. Pictures

2018
Original-Titel: 
They Shall Not Grow Old
Filmstart in Deutschland: 
27.06.2019
L: 
99 Min
FSK: 
16
Britische Soldaten im Ersten Weltkrieg schauen uns an – und sprechen in die Kamera. Peter Jacksons »They Shall Not Grow Old« macht aus dokumentarischem Archivmaterial ein immersives Filmerlebnis. Darf man das? Was löst es aus? Georg Seeßlen über Krieg, Kino und die Kunst der Restaurierung
Bewertung: 3
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Die erste Einstellung zeigt Soldaten, die in endloser Reihe an einer ­Kamera vorbeigehen, nicht: marschieren, sondern wie Leute, die auf dem Weg zu einer Arbeit sind, die irgendwie erledigt werden muss. Und genau das erklärt auch eine der Stimmen, die aus dem Off die Erinnerungsarbeit zu leisten haben: Kriegsteilnehmer, die ihre ­Erfahrungen wiedergeben. Das geht eben in der Spannbreite, die wir kennen, vom schmerzhaften Revivre eines blanken Grauens bis zum Krieg als großem Abenteuerspielplatz für Jungs, vom Heldenpathos bis zum lakonischen Erfüllen einer historischen Pflicht (»Kill the Germans«), von der lästigen Aufgabe bis zum Krieg als Handwerk (»We were professionals«), vom großen Spiel zur schieren Hölle, von der Selbsterfahrung des Erwachsen- und in gewisser Weise Freiwerdens an der Front bis zur Kameradschaft als neuer Familie. Es gibt keine verbindliche Kriegserzählung, weder eine verbindlich pazifistische noch eine verbindlich bellizistische. Dieses Durcheinander ist einer der vielen Gründe, warum es Kriege gibt.

Dazu das gepfiffene Lied, melancholisches Voranschreiten, und langsam, ganz ­langsam wird das Bild blasser, während wir noch bemerken, dass es auch Soldaten gibt, die in die entgegengesetzte Richtung unterwegs sind: Diese doppelte ­Auf­lösung be­reitet uns darauf vor, ins Wider­sprüchliche, ins ­Ambigu zu gelangen. Je näher die Gesichter der ­jungen ­Soldaten der Kamera gekommen sind, desto un­deutlicher ­wurden sie. Im Gespensterweiß verklingt die Melodie.

Der Film macht genau das Gegenteil. Er bearbeitet, mit Farbe und neuem Ton, das historische Material so intensiv, dass den filmischen Gespenstern wieder menschliche Gesichter gegeben werden. Gesichter, die zum Teil durch die Korrektur der filmischen Artefakte wiederhergestellt werden, zum Teil aber auch digitale Imaginationen sind. Die so entstandenen Personen, als sozusagen fiktional ergänzte Dokumentationen, erleben Abschnitte der Geschichte von den britischen Mobilmachungen über die Kämpfe auf dem Kontinent bis zum Friedensschluss von Versailles.

Am Anfang macht das Logo des Londoner ­Imperial War Museum etwas stutzig. Auf was lässt man sich da ein? Ist der Film eine Fortsetzung der modischen Museums­pädagogik im Kontext eines imperialen ­Krieges oder eines kriegerischen Imperiums? Gewiss nicht. Peter Jackson »erzählt« den Ersten Weltkrieg noch einmal, indem er das historische Material selektiert und bearbeitet. Beim Zugang zum Material des Museums wie dem der BBC wurde dem Regisseur, wie betont ­worden ist, keine andere Auflage gemacht als die, »respekt­voll« damit umzugehen. Eine enorme Fleißarbeit führte schließlich zu einem anderthalb­stündigen Film, der ­weniger Dokument oder Essay ist als vielmehr ­filmische Erzählung. Dabei handelt es sich um das Gegenteil einer Restaurierung, nämlich um ­eine Übertragung in eine »heutige« Ästhetik. Und damit ­beginnt das Problem beziehungsweise eine ­mögliche Aus­einandersetzung um cineastische Moral. Auf die Frage: Kann man das? (­Antwort: Und ob!) folgt die ­Frage: Darf man das?

Erinnern wir uns an die fünfziger und sechziger ­Jahre. Der Krieg, nicht nur im Kino, war schwarz-weiß, und das Genre des Kriegsfilms behauptete seine ­Authentizität durch eben dieses Schwarz-Weiß. Als die Kriegsfilme farbig wurden, wurden sie bemerkenswerterweise auch schmutziger, subjektiver und ­amoralischer. Sie verloren ihren Standpunkt, story und history trennten sich voneinander: Schließlich kappte Quentin Tarantino das letzte Verbindungsstück des Faktischen. Und selbst als am Ende des vorigen Jahrhunderts noch einmal entdeckt wurde, dass im »Dritten Reich« schon etliches Dokumentarmaterial in Farbe gedreht worden war, empfand man Kompilationen wie »Das Dritte Reich in Farbe« als leicht obszön – ein Sensualismus, der da nicht hingehörte. Das ­bittere Geheimnis des Krieges war im Schwarz-Weiß eingeschlossen.

Auch Peter Jackson also beginnt seine filmische Kriegserzählung im dokumentarischen Schwarz-Weiß. Die Farbe kommt, kaum überraschend, mit der britischen Fahne, dem Union Jack, auf einem Werbeplakat für das Militär ins Spiel. Dann beginnt eine filmische Doppelkodierung: Die ­farbige Symbolsprache der Propaganda dient als Rahmen für die schwarz-weißen Dokumentar­aufnahmen von Rekrutierungen, und schließlich wird das ­Leben und Sterben der Soldaten in ­einer ­kolorierten und flüssig geschnittenen Form ­präsentiert. Eine Geschichte, die sich aus vielen Splittern zusammensetzt. Aber: eine Geschichte.

In der Vorkriegszeit, die die Filmausschnitte nach der Introduktion schildern, war den meisten Menschen in Großbritannien wohl eine wachsende Spannung gewärtig, aber kaum jemand ­dachte daran, dass ein Krieg zwischen England und Deutschland kurz bevor stand. Bei einem gemeinsamen Abendessen werden die Mitglieder der deutschen und der britischen Rugby-Mannschaft durch die Nachricht von der Kriegserklärung gestört. Dann aber erfasst die Rekrutierungswelle das Land; es gibt gute und nicht so gute Gründe, sich freiwillig zu melden; niemand möchte eine weiße Feder, das Zeichen der Feigheit, zugesteckt bekommen; ­vielen ist der Krieg Gelegenheit, aus familiärer Enge auszubrechen, die Mehrzahl ist von patriotischer Pflicht geleitet.

Es folgen die Grabenkämpfe, die Bomben, der Stacheldraht, die Kampfpausen, das Singen und Erzählen. Die Kolorierung des Films nimmt den Schrecken auf, es wird dunkler und höllischer in Flandern, es sind die Farben des Horrors, die gegen die klaren Farben der Rekrutierungs­plakate gesetzt werden. Es gibt also nicht nur einen Übergang von Schwarz-Weiß zu Farbe, sondern die Farbe selbst verändert mehrfach ihre Palette. Und ähnlich verhält es sich mit den Stimmen: Von der Off­kommentierung durch die Veteranen geht der Ton in die Aufnahmen selbst über. Was man zuerst hört, sind Rufe und Befehle, dann ­kommen knappe Beobachtungen und Anweisungen dazu (Jackson bediente sich eines Lippenlesers, um die Kommandos zu rekonstruieren), ­schließlich Lieder, Lachen und natürlich Schüsse und ­Explosionen. Raum wird sowohl visuell als auch akustisch geschaffen, die Landschaft bekommt mit der Farbe etwas verstörend Magisches und Archaisches. Man kann sich des Eindrucks nur schwer erwehren: Mittelerde.

Mittelerde im Zustand einer tiefgreifenden Schändung. Jackson dokumentiert nicht, er sampelt. Auch die Erzählstimmen der Veteranen wurden nicht für den Film aufgenommen, sondern stammen aus den Archiven des Fernsehens und des Imperial War Museum. Das ist ihr einziger Zusammenhang, was erklärt, dass es hier nicht um eine kollektive Erzählung geht, sondern darum, dass ­jeder seine Kriegserzählung preisgibt, die durch ein Zeit- und ein Assoziations­netz mit den anderen verbunden wird. Es ist recht schnell klar, ­worauf der ­Regisseur hinaus­will, nämlich nicht den Krieg, sondern Menschen im Krieg zu zeigen. ­Menschen mit Schicksalen, Ideen, Empfindungen und Bedürfnissen. Und auch die formale Botschaft ist rasch klar: Indem er das Material von der Historie löst, es erscheinen lässt, als wäre es nicht vor hundert Jahren, sondern gestern gedreht, schiebt er das Metaphorische über das Vergangene. Der Hinweis »Filmed on ­location on the Western Front, 1914 to 1918« wird da schon etwas zweischneidig. Gerade dadurch, dass Jackson die Bilder von Chaos und Zerstörung so heftig nach­bearbeitet hat, bekommt man manchmal den Eindruck, sie stammten aus einem Science-Fiction-Film oder einem Computerspiel. Und dadurch, dass er die ersten 20 ­Minuten – die Geschichte der ­Rekrutierungen – noch in Schwarz-Weiß belässt und den Übergang durch die Tiefenmontage mit den Plakaten stufenweise ge­staltet, unter­streicht er den ­Transformations- und Revisions­aspekt. Vom Grau des Zivil­lebens in die ­Farben des Krieges, die er als besonders erdhaft und natürlich be­trachtet. Ein kleiner ­historischer Fehler mag dabei ­symptomatisch erscheinen: ­Panzer, die in Wirklichkeit in unspektakulärem Braun gehalten waren, ließ ­Jackson in auffälligem Grün kolorieren. Grün ist eine Leitfarbe dieser Rekon­struktion, im Zustand der Auswaschung und Verschmutzung bei den Soldaten im Schützen­graben, als Ahnung erhabener Natur im Hintergrund.

Solch einen Wechsel von Schwarz-Weiß zu Farbe kennen wir aus der Film­geschichte. Er kommt vor in »The Wizard of Oz«, der aus der grauen Wirklichkeit von Kansas in ein knallbuntes Zauberreich führt, in »The Picture of Dorian Gray«, wo ausschließlich das gemalte Bild selbst in Farbe gezeigt wird, in »Pleasantville«, wo der Wechsel Mediengeschichte und Lebensgefühl verbindet, in »Pat Garrett & Billy the Kid« als Wechsel von Realität und Legende. Am auffallendsten indes ist die Nähe zu Dalton Trumbos »Johnny zieht in den Krieg« 1971, in dem die Gegenwart des Krieges schwarz-weiß gefilmt ist, Rückblenden und Traum sich aber in Farbe präsentieren. Peter Jackson stellt also die Konvention dieses Stilmittels, das Arm und Reich, Glück und Schrecken, Realität und Traum voneinander trennt, ebenso auf den Kopf wie die Ikonographie des Genres Kriegsfilm.

Einer der wichtigsten Schritte der Bearbeitung war die computergestützte Angleichung der Bewegung, wodurch all das durch die originale Bildgeschwindigkeit erzeugte Ruckeln verschwindet und die Bewegungen flüssig und »normal« er­scheinen. Auch dieser Fälschertrick gibt den Personen etwas von ihrer Würde zurück, macht sie aber zugleich fiktional, wie die falschen Stimmen, mit denen sie sprechen, ­lachen oder schreien. Hinzu kommen schließlich ein paar Effekte wie Jump Cuts, Bild­drehungen und psychedelisch kolorierte Explosionen am Himmel, die den Eindruck von ­Wirklichkeit wieder durchkreuzen. Kurz und gut: Peter Jackson macht aus dem dokumentarischen Material nicht bloß Film, sondern vor allem: Kino.

Wie bei dem größten Chronisten des einfachen Soldaten im Ersten Weltkrieg, dem Zeichner ­Jacques Tardi, steckt auch bei Peter Jackson eine biografische Spur in dem Projekt: Sein Großvater hatte den Ersten Weltkrieg mitgemacht und muss wohl zeit ­seines Lebens mit der Verarbeitung seiner Erfahrungen gekämpft haben. Ein Hollywoodfilm zum Thema kam für Peter Jackson nach eigenen Aussagen nie ­infrage, aber unter der Hand hat er nun wohl doch etwas in der Art hergestellt, von den Schauwerten über die Plotkonstruktion bis hin zum Wechsel von Schreckensbildern und comic relief.

Jackson arbeitete mit seinem bewährten Team, darunter Steve Roche, der schon an der Musik von »Herr der Ringe« und »King Kong« beteiligt war, die Sängerin und ­Komponistin Janet Roddick, ebenfalls in der Fantasywelt der Hobbits daheim, oder der Cutter Jabez Olssen, der schon seit »The Lovely Bones« (In meinem Himmel, 2009) dazugehört: Gäbe es ein großes Projekt der Jackson-Crew, so wäre es wohl die end­gültige Auflösung der Grenze zwischen Fiktion und Realität, zwischen Bild und ­Materie.

Man wird am Ende fragen, was ein solches Verfahren bringt. An Erkenntnis? Vergleichs­weise wenig, jedenfalls für Menschen, die sich ein bisschen mit der Geschichte befasst haben. An Haltung? Der Film enthält kaum denunziatorische Bilder des Feindes (wir erfahren allerdings, dass Bayern und Sachsen als zivilisierte Gegner betrachtet wurden, während die Preußen ... ), aber er ist eindeutig als Kampf des Guten gegen das Böse montiert. Es wäre allzu billig, in dieser Montage eine »Lord of the Rings«-Endschlacht zu sehen (Tolkiens Roman entstand in der Zeit des Zweiten Weltkriegs), aber der rein inversive Blick – kein Suchen nach Gründen, Bedingungen oder Interessen – und die beständigen Symbolismen (der Marsch im Morgenrot, die Blumen auf dem Schlachtfeld) legen eine solche Deutung nahe: Dies sind unfreiwillige Helden, die von Kräften getrieben werden, die viel größer erscheinen als sie selbst, und die ihre Menschlichkeit in die Waagschale werfen müssen.

Bringt der Film ein Mehr an Empfindung? ­Tatsächlich sind die Schrecken dieses Krieges nur noch schwer vorstellbar, und etliche ­Szenen ­dürften dazu angetan sein, dem einen oder anderen den Spaß am Kriegspielen zu verleiden, vielleicht. Vor allem ist das Projekt einer funda­mentalen Subjektivierung gelungen, was be­deutet, es geht bis zum Ende hin immer auch um ­Triviales und Vulgäres (oder darum, wie man ­unter ­widrigsten Umständen zu ­einer ­Tasse Tee kommt), womit durchaus Blicke ins Innere einer Kriegs­organisation möglich werden. Andere Szenen indes, zu viele davon vielleicht, unter­streichen gerade die Idee vom Krieg als Spektakel. Jedenfalls wird die Cinemato­graphie des Krieges nirgendwo infrage gestellt, und so ist ein Film entstanden, der Menschen und Menschliches aus dem gewaltigen Haufen des Dokumentar­materials fischt, dabei aber jedes Bewusstsein und jede Selbst­reflexion verliert. Es ist ein Stück Oral ­History, illustriert mit den Mitteln des ­Post-Hollywoodkinos. Die Mittel der Assoziations­montage (ist von Ratten die Rede, werden Bilder von Ratten eingeschnitten) und der panoramatischen Zwischenschnitte (keiner der Erzähler hat je die Schützengräben im Überblick sehen können) sowie der schon fast besinnungslose Switch von Schrecken und Komik, Abenteuer­urlaub (einer der Veteranen spricht das ganz direkt aus) und Massensterben machen aus diesem Film, der vielleicht wirklich als ­Mahnung zum Frieden in Europa gedacht war, trotz seiner Steigerungs­logik zu ­einem fast schon nihilistischen Statement. ­Faszination, Schrecken und Normalität: Groß­vaters Kriegs­geschichte als cineastisches Ereignis, oder doch der Beginn von Geschichte als scripted reality soap? Peter Jackson hat uns gezeigt, was möglich ist, jetzt müsste jemand zeigen, was nötig ist.

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