Kritik zu Shutter Island
Eine sturmumtoste Insel voller Wahnsinniger und ein Marshal, des selbst schon dem Wahnsinn nahe ist . . . In seinem ersten Horrorthriller greift Martin Scorsese lustvoll in die Trickkiste
Die Erwartungen waren immens, und so ist es nur folgerichtig, dass auch die Enttäuschung bei vielen Kritikern groß war. Auf der Berlinale jedenfalls konnte Martin Scorseses neues Werk, das außer Konkurrenz lief, nur wenige überzeugen. Zu verwickelt sei es, aufdringlich und wirr, und letztlich könne man es nur als B-Picture betrachten. Da ist manch Wahres dran – doch muss das gegen den Film sprechen? Scorsese hat mit »Shutter Island«, der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Dennis Lehane, jedenfalls auf spielerische Weise noch einmal neue filmische Freiheiten gefunden.
Typisch Scorsese ist allerdings die reichlich obsessive Hauptfigur, und zum bereits vierten Mal hat Scorsese sie mit Leonardo DiCaprio besetzt. Der wirkt inzwischen erwachsen genug, um einen so vom Leben gezeichneten Charakter wie Marshal Teddy Daniels zu verkörpern, und seine Leistung gehört zu den besten seiner Karriere. Seekrank sehen wir ihn bei der Überfahrt auf die titelgebende Insel, die der Film fortan nicht mehr verlassen wird. Wir befinden uns im Jahr 1954, der Zeit von McCarthy, des Kalten Krieges und der Wasserstoffbombe. Shutter Island ist eine gottverlassene Insel vor der Küste, auf der sich nichts außer einer festungsartigen psychiatrischen Klinik für Schwerverbrecher befindet. Die Schlimmsten der Schlimmen werden hier verwahrt, abgeschottet vom Rest der Welt. An diesem locus terribilis, der von Anfang an eine an Düsternis kaum zu übertreffende Atmosphäre vorgibt, sollen Daniels und sein Partner Chuck Aule untersuchen, wie eine mehrfache Kindsmörderin verschwinden konnte. Es gibt keine Spuren, und das sinistre Personal der Klinik scheint wenig interessiert an der Aufklärung des Falles.
Erschwerend kommt der Zustand von Daniels hinzu: Er wird von Migräneattacken und traumatischen Erinnerungen heimgesucht, an seine Teilnahme bei der Befreiung des KZ Dachau und an die Ermordung seiner Familie durch den wahnsinnigen Pyromanen Andy Laeddis – den Daniels ebenfalls in der Klinik vermutet und finden will. Schon früh wird die Realitätsoberfläche der Handlung von beunruhigenden Rissen durchzogen. Als sich merkwürdige Ereignisse und Zeichen häufen und zudem ein Sturm die Insel von der Außenwelt abschneidet, bricht Daniels' Wirklichkeit immer weiter auseinander. Nichts ist, was es scheint; alles wird zum Zeichen für etwas anderes. Die Klinik: eine Experimentierstätte der CIA für Bewusstseinskontrolle? Die verschwundene Verrückte: nur ein Vorwand, um Daniels auf die Insel zu locken? Daniels' Erinnerungen: nur ein Konstrukt, um mit einer noch unerträglicheren Wahrheit leben zu können?
Fragen über Fragen, und Scorsese wird auch am Ende keine ganz eindeutige Antwort liefern. Auch wenn der Film immer tiefer in die Struktur der Klinik und der vermeintlichen Wahrheit vordringt, von den Seitengebäuden in den Trakt C, das finstere Herz der Anlage, in dem die hoffnungslosesten Fälle dahinvegetieren. Schließlich zum vorgelagerten Leuchtturm, der das Kerngeheimnis zu bergen scheint – doch auch nur ein trügerisches Licht auf die Vorgänge wirft. Identitäten und Realitäten werden uns unsanft um die Ohren geschlagen – was man gemeinhin eher mit Lynch denn mit Scorsese assoziiert.
Serviert wird das als genüssliche Kolportage aus unzähligen Elementen der Film- und Kunstgeschichte, aus Genreverweisen und Genreverdrehungen von »Manchurian Candidate« bis »Shining«, Geisterbahneffekten und Anagrammen. Schon der scharf konturierte, effektvolle Soundtrack ist eine Reise durch alle möglichen Stile und kontrastiert den eher verhaltenen Kamerastil von Robert Richardson. Und der Name des Anstaltsleiters Dr. Cawley spielt sowohl auf »Dr. Caligari« – Robert Wienes Klassiker ist eine deutliche Inspirationsquelle für »Shutter Island« – als auch auf den Magier respektive Scharlatan Aleister Crowley an. Oder steht Cawley letztlich doch weniger für Lobotomie denn für die sich in jenen Jahren humanisierende Psychiatrie? Max von Sydow als Arzt mit möglicher Nazivergangenheit öffnet wiederum ein Fenster auf eine ganz andere Geschichte, die Kontinuität des Nazipersonals und seiner Gräuel in der Geschichte des Kalten Krieges.
Scorseses Hantieren mit Motiven erschöpft sich aber nicht in postmodernistischem Bauklötzchenspiel. Auch wenn er einzelne Fäden nicht konsequent zuende spinnt und ein paar Plot-Twists vorhersehbar sind, führt er doch tief ins Niemandsland zwischen Trauma und Verdrängung, Paranoia und Politik. Und erzählt damit ebenso viel über die psychische Befindlichkeit der USA in den frühen 50er Jahren wie ganz allgemein über die inhärente Logik von Verschwörungstheorien. Was aber das Schönste ist: Scorsese ist souverän und mutig genug, sein Thema nicht in biederer Geschmacksgewissheit abzuhandeln, sondern als klaustrophoben Alptraum mit trashigen Einschlägen. Das Ergebnis ist vielleicht kein Meisterwerk, das Werk eines Meisters ist es allemal.
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