Kritik zu Shikun
Amos Gitais neuer Film betrachtet die israelische Gesellschaft vor dem 7. Oktober – in Form einer absurden, aber auf Ausgleich zielenden semitheatralen Inszenierung
»Shikun« ist inspiriert von Eugène Ionescos »Die Nashörner«, ein Klassiker des absurden Theaters. Im Stück verwandeln sich Menschen in eine Herde von Nashörnern. Nur der Protagonist nicht. Er wird zum Außenseiter einer Gesellschaft, die sich unter totalitärem Anpassungsdruck dem Menschsein entfremdet hat. Im neuen Film von Amos Gitai trotzt die französisch-schweizerische Schauspielerin Irène Jacob der Verwandlung. Die Nashörner aus Ionescos antitotalitärem Drama nimmt Gitai als Metapher für die moderne israelische Gesellschaft. »Shikun« entstand vor dem 7. Oktober. Bevor das barbarische Massaker der Hamas Israel erschütterte, protestierten Hunderttausende Israelis gegen die von Netanjahu und seiner Regierung angestrebte Justizreform. Davon ist in »Shikun« nirgends die Rede, doch die Referenz schwingt mit.
Ort der Handlung ist ein Sozialbaukomplex, der bessere Tage gesehen hat. »Shikun« ist das hebräische Wort für ein solches Gebäude, das Menschen beherbergt. Gitai ist gelernter Architekt – Gebäude spielen bei ihm eine wichtige Rolle. Etwa in »Bait« (House, 1980), wo er anhand der Bewohner eines Hauses die Geschichte des palästinensisch-israelischen Konflikts dokumentiert. In »Shikun« wird der im Stil des Brutalismus erbaute Komplex zum Sinnbild für den Zustand der israelischen Gesellschaft. Israel war einmal Zufluchtsort für Juden aus aller Welt. Wie das Land sich künftig entwickeln wird, ist ungewiss. In den 1950er Jahren arbeiteten in Beer Sheva, am Rande der Negevwüste, junge, innovative Architekten. Doch nun stehen Ladenflächen leer, Schaufenster sind vernagelt; ein Architekt streitet mit einem Investor, der seinen Käufern mitten in der Wüstenstadt einen Blick aufs Meer versprochen hat, ob die Synagoge in den Keller oder aufs Dach kommt. Busse bringen Geflüchtete, Zugezogene und Neueingewanderte, denen in dem unwirtlichen Bau mit den ausgedehnten Außenfluren eine Wohnung zugewiesen wird.
Der Film erinnert an experimentelles Theater. Gitai entwirft Bilder, die dechiffriert werden wollen, ein Mosaik aus Fragmenten, verflochten mit Texten des Regisseurs und anderer Autor*innen, lose verbunden durch die für den Film komponierte Musik. Montiert werden Bruchstücke beiläufiger Alltagsbegegnungen, disparater Lebenserfahrungen und Gemütsregungen. Überlebende des Holocaust treffen auf junge Israelis und Neueingewanderte, zwei orthodoxe Männer tauchen auf, auch ein jüdisch-palästinensisches Freundespaar kommt vor. Hebräisch, Arabisch, Französisch, Jiddisch und Ukrainisch wird gesprochen. Oft reden die Figuren aneinander vorbei, hören einander nicht. Immerhin gibt es einen hebräischen Sprachkurs für die Neuzugewanderten.
Gitai weiß, dass Filmkunst die politische Realität hinterfragen, aber nicht ändern kann. Mit seiner Filmarbeit hat er zumindest einen Mikrokosmos geschaffen, in dem jüdische und palästinensische Darsteller*innen (Yaël Abecassis, Bahira Ablassi u. a.) und ein ebenso gemischtes Technikteam miteinander arbeiten. Das Gedicht des palästinensischen Dichters Mahmud Darwisch »Denke an die anderen!« am Ende des Films kann als programmatisch für die Haltung Gitais gelesen werden, der gerne Brücken bauen möchte. Auch jetzt.
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