Kritik zu She Chef
Wie im Kino: Der Dokumentarfilm begleitet eine junge Frau, die als Köchin zu sich selbst findet
In seinem Dokumentarfilm »El Bulli – Cooking in Progress« aus dem Jahr 2011 blickte der Regisseur Gereon Wetzel hinter die Kulissen des wegweisenden Avantgarde-Restaurants an der Costa Brava. Zwölf Jahre später verschieben er und seine Co-Regisseurin Melanie Liebheit die Perspektive auf sehr interessante Weise, nämlich von der Spitze der Küchenpyramide zur Basis: Sie begleiten eine junge Österreicherin auf ihren Wanderjahren durch internationale Spitzenküchen, wo sie als Praktikantin Erfahrungen sammeln will. Diese Reise führt vom eher gediegenen Dreisternerestaurant »Vendôme« in Bergisch Gladbach über das modernistische »Disfrutar« in Barcelona bis zum naturverbundenen »Koks« auf den Färöer Inseln.
Ihre Lehre absolvierte die junge Köchin namens Agnes im renommierten Wiener »Steirereck«, danach gewann sie im österreichischen Jugendnationalteam die Kochweltmeisterschaft. Trotzdem, und bereits das ist hochinteressant, begegnet man ihr in den Küchen zunächst mit einer gewissen Skepsis. Respekt muss sie sich immer erst erarbeiten. Inwiefern dies bei Frauen in der männlich dominierten Welt der Sterneküchen noch stärker zutrifft, wird leider kaum thematisiert.
Bei ihrer ersten Station im »Vendôme« sagt der Souschef ohne Umschweife, dass man direkt nach der Lehre eigentlich nicht in ein Dreisternerestaurant gehöre. Es gehört zu den schönen, wirklich filmreifen Wendungen, dass ausgerechnet er zu Agnes’ bestem Freund und Vertrauten wird, auch lange nachdem sie das Restaurant verlassen hat. Die regelmäßigen Zoom-Gespräche der beiden offenbaren viel über die Ideale junger Köche und über die unterschiedlichen Atmosphären und Philosophien in den diversen Restaurants. Dabei werden manchmal auch Konflikte angedeutet, die in den Küchenszenen selbst leider nie zu sehen sind. Dort herrscht stets eine vielleicht strenge, aber gute Atmosphäre, mit väterlichen Küchenchefs und hilfsbereiten Kollegen.
In dieser Hinsicht hätte man sich mehr (kritische) Details gewünscht, gerade aus der weiblichen Perspektive. Auch das System unbezahlter Praktikanten, ohne die es in vielen High-End-Küchen gar nicht mehr geht, wird nicht infrage gestellt. Doch der Ansatz von Wetzel und Liebheit ist ein anderer. Es geht ihnen nicht um eine investigative Bestandsaufnahme der Arbeitsbedingungen in Gourmetküchen. Vielmehr ist »She Chef« das Porträt einer leidenschaftlichen jungen Köchin, die ihre Praktika als Chance begreift. In dieser Hinsicht erweist sich Agnes als echter Glücksgriff. Sie ist ebenso talentiert wie reflektiert, wirkt bescheiden und doch selbstbewusst. Im weltberühmten »Disfrutar«, wo zwischendurch der Corona-Lockdown einsetzt, möchte man sie kaum gehen lassen. Und im »Koks«, gelegen in einer unwirklich idyllischen »Herr der Ringe«-Landschaft, findet sie am Ende ihre Bestimmung, beruflich und privat. Dass die Dokumentation einer Praktikumsreise sich zu einer so spielfilmreifen »éducation sentimentale« entwickelt, hätte sich wohl keiner der Beteiligten träumen lassen.
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