Kritik zu Rosalie

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Stéphanie Di Giusto (»La Danseuse«) lässt in ihrer von einem dokumentierten Fall inspirierten Geschichte um eine Frau mit Hirsutismus moderne Selbstermächtigung mit dem gesellschaftlichen Klima des ausklingenden 19. Jahrhunderts kollidieren

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Ein Alptraum, mal wieder. Mitten in der Nacht schreckt Rosalie (Nadia Tereszkiewicz) hoch. Im Schein der Kerze streicht sie zärtlich über das gerahmte Porträt eines jungen Mannes in Uniform. Auch das Kreidekreuz auf dem Holzboden, vom Vater Paul (Gustav Kevern) aufgemalt, hat gegen ihre innere Unruhe nicht geholfen. »Meinst du, das Kleid gefällt ihm?«, fragt sie ihn am nächsten Morgen, als sie sich zurechtmacht für die Fahrt in eine ungewisse Zukunft. Darauf weiß der Vater keine rechte Antwort, weil es unausgesprochen um weit mehr geht als das Kleid. Also bittet sie die Jungfrau Maria, die aus weißem Porzellan ganz oben auf dem Schrank steht, »Mach, dass er mich liebt.« Mit Hab und Gut fahren sie mit der Pferdekutsche durch den Wald, bis sie in einem Dorf ankommen, das Rosalies neue Heimat werden soll. Als Frau des Dorfwirts. Eine Ehe nicht aus Liebe, sondern aus ganz praktischen Erwägungen. Weil Abel (Benoît Magimel), dem versehrten Kriegsheimkehrer, mit seiner schlecht laufenden Kneipe die Schulden über den Kopf wachsen, hat er gegen den Erhalt einer stattlichen Summe und reichlich weiterer Mitgift zugestimmt, eine ihm Unbekannte zu heiraten. Das Geschäft hatte der Brautvater eingefädelt, in der Hoffnung, damit seine Tochter versorgt zu wissen, mit allem Wenn und Aber. Denn die junge Frau ist zwar hübsch, gebildet und fleißig, aber sie hat auch etwas zu verbergen, das der nichts ahnende Abel erst in der Hochzeitsnacht zu Gesicht bekommt.

Seit ihrer Kindheit leidet sie an extremer Körperbehaarung. Was sie im Gesicht dank penibler Rasur und Make-up unsichtbar hält, erstreckt sich als dichter Flaum über den ganzen Körper, in der Öffentlichkeit verdeckt durch hochgeschlossene, langärmelige Kleider. Voller Wut und Abscheu fordert Abel zunächst, dass sie den Hof verlässt. Rosalie bleibt, trotz der Demütigung, und versucht bald, sich nützlich zu machen. Auch wenn das heißt, sich einen Bart wachsen zu lassen, um so die neugierigen Dorfleute ins Wirtshaus zu locken. Und die kommen, staunen und konsumieren. Der Laden brummt. Doch der Reiz des Fremden nutzt sich schnell ab, im Dorf wächst die Ablehnung.

Die französische Filmemacherin Stéphanie Di Giusto basiert ihren Film auf der wahren Lebensgeschichte von Clément Delait (1865–1939), die in ihrem Dorf in Lothringen ein Café betrieb und mit selbst verkauften Postkarten als »Frau mit Bart« zu gewisser Berühmtheit gelangte. Di Giusto verlegt die Geschichte in ein bretonisches Dorf um 1870, das von Barcelin (Benjamin Biolay), dem Besitzer der hiesigen Textilfabrik, wie ein Despot beherrscht wird. Von Rosalie ebenso fasziniert wie irritiert, weist er ihren Freigeist in Schranken. Nadia Tereszkiewicz verkörpert diese Frau mit einer Mischung aus Stolz und Zerbrechlichkeit, Naivität und Kampfgeist. Die Kamera ist ihr oft ganz nahe, degradiert diese Rosalie aber nie zum zu bestaunenden Objekt, sondern lässt sie handelndes und blickendes Subjekt sein.

Erklärungsversuche überlässt der Film den Figuren im Umfeld, die mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Wissenshorizont eine Hormonstörung vermuten, wie der sie untersuchende Arzt, oder ihr gleich das Frausein absprechen, wie ein Teil der prüden Dorfgemeinschaft. Rosalie selbst scheint sich mit ihrem Schicksal ausgesöhnt zu haben. Stets bei sich hat sie ein Kruzifix mit der bärtigen Volksheiligen Kümmernis, der mittelalterlichen Legende nach eine Jungfrau, die in Gebeten um Verunstaltung flehte, um der vom Vater erzwungenen Ehe zu entgehen und, als ihr ein Bart wuchs, vom erbosten Vater gekreuzigt wurde. Rosalie geht in ihrer Selbstermächtigung einige Schritte weiter, doch dem gesellschaftlichen Klima ihrer Zeit kann auch sie nur bedingt etwas entgegensetzen. Di Giusto zeichnet das Por­trät einer Person, die sich Regeln und Schönheitsidealen entzieht und um Anerkennung und persönliches Glück kämpft, verliert sich in der zweiten Hälfte dann aber doch in bisweilen melodramatischen Konventionen einer tragischen Liebesgeschichte.

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