Kritik zu Rojo

OmU © Filmcoopi Zürich

Argentinien, einige Monate vor der Machtergreifung der Militärjunta: Ein Anwalt, der als Mitläufer von den politischen Verwerfungen profitiert, wird immer tiefer in verbrecherische Machenschaften verstrickt. Benjamin Naishtat inszeniert die Radiographie der Gesellschaft als Paranoiathriller

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Friedlich und schmuck bietet sich das Einfamilienhaus dem Blick der Kamera dar. Ein Titel wird eingeblendet, der uns vage in Zeit und Ort einweiht: eine argentinische Provinz im Jahr 1975. Die Rollläden sind heruntergelassen. Ein gepflegter älterer Herr mit Gehstock tritt heraus, er hält eine Wanduhr im Arm. Sodann erscheint eine junge Frau mit Kleidungsstücken. Auch Röhrenfernseher und Spiegel finden Abnehmer. Schließlich kommt eine ältere Dame aus dem Haus, die eine Schubkarre mit Habseligkeiten gefüllt hat.

Ein Passant, der das Treiben beobachtet, will der Sache auf den Grund gehen. »Hallo?«, ruft er durch die Tür hinein, aber niemand antwortet ihm: Die Auflösung des Haushalts findet ohne seine Besitzer statt. Nach zwei Minuten markiert eine Abblende das Ende der Exposition von Benjamin Naishtats drittem Langfilm. Was wir in ihr gesehen haben, ist nichts anderes als eine Plünderung. Aber auf die Idee kämen wir zunächst nicht, denn sie vollzieht sich ohne Hast und Scham.

Auf leisen Pfoten stimmt Naishtat in das Klima des Beschweigens ein, das im letzten Jahr der Präsidentschaft von Isabel Peron herrscht. Die Bevölkerung weiß, was ihre Bürgerpflicht ist. Die nächste Sequenz freilich ist bereits wort- und konfliktreicher. In einem Restaurant entspinnt sich samstagabends ein Machtkampf. Der Anwalt Guido, von den Kellnern respektvoll »Doktor« genannt, überlässt nach kurzem Zögern seinen Tisch einem jungen Unruhestifter. Während er auf seine verspätete Gattin wartet, demütigt er seinen Widersacher, in dem er ein vernichtendes Urteil über dessen Lebenseinstellung fällt. Die betretene Stille der übrigen Gäste schlägt um in einen Tumult, nach dessen Ende der Tisch wieder frei ist. Vor dem Restaurant jedoch wartet der Störenfried – mit einem Revolver in der Hand.

Es dauert einen Moment, bis der Regisseur endgültig sicherstellt, dass Guido der Protagonist seines Films sein wird. Bei dieser Aussicht darf einem mulmig werden. Der bekannte Anwalt wohnt den moralischen Verwerfungen der Gesellschaft bei, ohne Aufsehen zu erregen. Er läuft mit. Als ein alter Schulfreund plötzlich verschwindet, nimmt er dies wortlos zur Kenntnis. Er versteht es, Vorteile aus den Verhältnissen zu ziehen. Der Straßenkreuzer, die Mitgliedschaft im Tennisclub und seine Zigarettenspitze künden von der Erwartung sozialen Aufstiegs. Es wäre ein Leichtes, den angepassten Bürger und strengen Familienvater einen faschistischen Charakter zu nennen. Aber Naishtat zieht der Rolle einen doppelten Boden ein, indem er sie einnehmend besetzt: mit Darío Grandinetti, der in »Sprich mit ihr« den Journalisten spielte, der die komatöse Stierkämpferin so hingebungsvoll liebt.

Damit eröffnet er dem Publikum die Innenansicht einer Gesellschaft, die sich schon auf die Militärdiktatur vorbereitet. Das Argentinien des Jahres 1975 zeigt »Rojo« als einen Druckkessel der Angst und Repression. Der Staatsterror gegen Gewerkschaften und Studentenbewegung ist eine unsichtbare Grundierung; das Verschwindenlassen erledigen bescholtene Bürger schon selbst. Allerorten wird die Freundschaft mit den USA beschworen: Lateinamerika als katholisch gefestigte Bastion im Kalten Krieg.

Dramaturgisch und ästhetisch ist Rojo dem Paranoiakino Hollywoods aus den 1970ern verpflichtet. Jede Situation, jedes Requisit ist symbolisch aufgeladen, jedes Gespräch könnte sich in ein Verhör verwandeln. Als ein dubioser Bekannter Guido bittet, juristische Schützenhilfe beim Erwerb des leerstehenden Hauses vom Anfang zu leisten (an den Wänden sind noch die blutigen Spuren einer Razzia zu sehen), und sich der renitente »Hippie« der Restaurantszene als dessen Schwager entpuppt, zieht sich die Schlinge um den Hals des Anwalts zu. Ein chilenischer Detektiv (von Pablo Larraíns Stammschauspieler Alfred Castro als sinistre Columbo-Variante verkörpert) soll Licht ins Dunkel bringen. Wer sagt denn, dass in einem Paranoiathriller immer nur die Unschuldigen Angst haben müssen?

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