Kritik zu Reise nach Jerusalem
Außenseiterballade: Eine Frau findet keinen Job und droht ihren Platz in der Gesellschaft zu verlieren
»Hauptsache Erfolg!« Die Überschrift, über die Alice (Eva Löbau) beim Friseur in einer Zeitschrift stolpert, klingt wie ein großes Mantra unserer Zeit. Die Grenzen zwischen Beruf und Alltag werden heute durch kapitalistische Ellbogenmentalität immer dünner und Selbstoptimierung und Leistung zur allgegenwärtigen Währung. »Jung, attraktiv und dynamisch« lautet das Wunschprofil, das auch in »Reise nach Jerusalem« aufs Korn genommen wird. Es ist ein, überspitzt gesprochen, berufliches Haifischbecken, in dem viele unterzugehen drohen. So auch Alice, deren Geschichte Regisseurin Lucia Chiarla in ihrem Spielfilmdebüt erzählt.
Die studierte Publizistin und Germanistin hält sich mit Benzingutscheinen, die sie bei absurden Jobs für Marktforschungsinstitute erhält, über Wasser und ist auf die Stütze vom Arbeitsamt angewiesen. Von den Maßnahmen des Jobcenters, an denen sie teilnehmen muss, hat Alice die Nase voll, doch einen Job sucht die 39-Jährige vergebens. Sie befindet sich in einem regelrechten Bewerbungshamsterrad und ist auf dem besten Weg, ihr vor dem Spiegel aufgesetztes Lächeln und ihren Platz in der Gesellschaft zu verlieren. Den Soundtrack dazu liefert passenderweise die »Bitte Warten«-Musik diverser Telefonwarteschleifen.
»Reise nach Jerusalem« spielt in Berlin und zeigt die Kehrseite der Hipsterhochburg mit ihren Start-ups und jungen Kreativagenturen. Der Filmtitel bezieht sich auf das gleichnamige Gesellschaftsspiel, das in metaphorischer Aufgeladenheit auf allen Ebenen durchdekliniert wird. In besagtem Friseursalon etwa werden Alice zwei Sitzplätze vor der Nase weggeschnappt, Rückhalt findet sie weder bei ihren Eltern noch bei Freunden, und körperliche Nähe muss sie sich bei ihrem Gigolo-Nachbarn Luca (Beniamino Brogi) erkaufen. Alice wird so zum Sinnbild für die gesellschaftliche Entfremdung, verstärkt noch durch die kühlen Bilder von Kameramann Ralf Noack, die die Frau auch visuell isolieren. Am deutlichsten in den an Überwachungskameras erinnernden Einstellungen von mit Menschen gefüllten Räumen, in denen Alice immer abseitig zu stehen scheint.
Chiarla erzählt »Reise nach Jerusalem« zwar leise, aber alles andere als subtil. Geradezu plakativ sind viele Figuren und Situationen geraten, etwa die unempathischen Eltern, die das eigentlich für die Tochter ersparte Geld selbst verkloppen oder auch das vor Behördenklischees und Verblödung schreiende Bewerbungstraining. Diese künstlich wirkenden Überhöhungen werden nicht etwa ironisch gebrochen, sondern unterstreichen unnötigerweise noch Alices ohnehin schon überdeutliches Ausgrenzungsgefühl. Das beißt sich mit der authentischen Inszenierung des Films und raubt ihm einiges an Drive.
Voll und ganz verlassen hingegen kann sich die Regisseurin auf ihre Hauptdarstellerin. Mit ihrem nuancierten Spiel zwischen verzweifelter Motivation, totaler Resignation und Rotzigkeit ist Eva Löbau der Anker von Lucia Chiarlas in Ansätzen origineller Außenseiterballade.
Kommentare
Reise nach Jerusalem
Rezension trifft es genau. Der Film zeigt keine einzige sympathisch Figur (außer Alice). So distanziert, so beziehungslos - das ist nicht stimmig. Wie viele Szenen in dem Film konstruiert, lebensfern wirken - und das über zwei Stunden - Manno!
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