Kritik zu Possessor
In seinem zweiten Film knüpft Regisseur Brandon Cronenberg an das Frühwerk seines Vaters David an – mit drastischem Körperhorror reflektiert sein Film neue technologische Entwicklungen
Gleich in der ersten Filmszene wird mit einem Bohrer eine menschliche Schädeldecke penetriert. »Possessor« ist ein Film, der zur Sache kommt. Andererseits aber auch ein Film, der vieles in der Schwebe lässt und dadurch seine Spannung aufbaut. Der den Zuschauer mit fragilen Identitäten konfrontiert und die Rollen von Täter und Opfer auflöst. Die junge schwarze Frau, der in der ersten Szene die Schädeldecke durchbohrt wurde, tötet gleich darauf in der Öffentlichkeit einen Mann mit mehreren Messerstichen. Das, was sie danach mehr zu sich selbst sagt, weckt beim Zuschauer Zweifel, ob sie für ihre Tat verantwortlich war. Diente der Eingriff in ihr Gehirn dazu, sie einem fremden Willen zu unterwerfen?
Das ist der Fall – die Frau, die in die Körper der anderen eindringt, heißt Tasya Vos und gibt sich gegenüber ihrer Familie als Schauspielerin aus. Ob sie wirklich Schauspielerin ist, bleibt unklar, in eine andere Existenz zu schlüpfen, hat sie jedenfalls gelernt. Dass ihre eigene Identität darunter leidet, wird deutlich: Bevor sie ihr Zuhause betritt, repetiert sie erst einmal ihre nächsten Sätze.
Wer das erste Opfer war, erfährt man aus den Fernsehnachrichten, als Nächstes ist ein Konzernchef auserkoren. Der Organisation, die hinter den Morden steht, geht es um die Übernahme von Firmen. Diesmal ist der Liebhaber der Tochter des Firmenchefs dazu auserkoren, den Schwiegervater in spe zu töten. Doch das System ist nicht perfekt, schon die Attentäterin zu Beginn schaffte es nicht, im Anschluss an die Tat sich selbst zu erschießen, auch Colin gelingt das nicht, aber ist er überhaupt noch Colin – oder vielmehr schon Tasya?
»Wie der Vater so der Sohn« ist man angesichts des zweiten Spielfilms von Brandon Cronenberg geneigt zu sagen. Ähnlich wie sein Spielfilmdebüt »Antiviral« (2012, in Deutschland nur als Homevideo-Release herausgekommen) knüpft auch »Possessor« an den Körperhorror an, mit dem sich David Cronenberg seit seinem Debüt »Shivers« (Der Parasiten-Mörder, 1975) einen Namen machte. Wobei die schmerzhaften Angriffe auf den Körper hier wie dort nicht von irgendwelchen Psychopathen oder Hinterwäldlern verübt werden (wie es überwiegend der Fall war im sogenannten Splatter-Kino der Zeit), sondern mit akribischer Planung und mittels hochentwickelter Technologie von Unternehmen, die damit ihren Einfluss über Menschen ausdehnen wollen. Technologie und Barbarei gehen Hand in Hand. David Cronenberg hat diesen Zusammenhang zum letzten Mal 1999 in »eXistenZ« ausgearbeitet. Brandon Cronenberg knüpft motivisch an diesen Film an, unterstreicht die Referenz auch durch die Mitwirkung von Jennifer Jason Leigh, die seinerzeit die Hauptrolle verkörperte, erzählt dabei ganz gradlinig und ernsthaft, das macht den Fiebertraum, zu dem sich das Geschehen zunehmend entwickelt, umso eindringlicher.
Zudem: »Possessor« passt in diese Zeit, zum Stillstand durch die Pandemie, in der eine Verunsicherung hinsichtlich der eigenen Identität zur Norm geworden ist.
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