Kritik zu National Gallery
Frederick Wiseman, der am Tag des deutschen Kinostarts seines neuesten Films 85 wird, dokumentiert das Treiben in der Londoner National Gallery, einer der populärsten Gemäldesammlungen der Welt
William Turner lebt – die rote Boje, mit der der Maler in Mike Leighs Mr. Turner nachträglich eines seiner Seegemälde bereicherte, kommt auch in Frederick Wisemans Dokumentarfilm National Gallery vor, in der ein Museumsführer der Londoner Institution dieses Bild Besuchern erläutert. Die Faszination an Museen und deren Sammlungen, die in diesem Jahr bereits Johannes Holzhausens Das große Museum erkundete, ist bei Frederick Wiseman vor allem eine Frage der Lebendigkeit und Gegenwärtigkeit alter Gemälde, erzeugt durch Kunstvermittlung. Seine Protagonisten sind dementsprechend die Ausstellungsführer und Museumspädagogen, die ihrer Arbeit mit einem ausgesprochenen Enthusiasmus nachgehen, fast alle unterstreichen ihre Worte durch große Gesten, während ihre Zuhörer meist in andächtigem Schweigen verharren.
Höchst faszinierend also, um die mögliche Bedeutung eines Totenkopfes zu wissen, der wie ein Fremdkörper zwischen zwei Männern auf einem Bild prangt (es geht um Geld, möglicherweise auch um ein Verbrechen), oder wie verschiedene Maler dieselben Figuren ganz unterschiedlich porträtieren. Faszinierend und Erkenntnis bringend ist aber auch die Arbeit der Restauratoren, zumal wir nicht nur sehen, mit welcher liebevollen Genauigkeit sie ihre Arbeit verrichten, sondern auch, was dabei an Entdeckungen zu Tage gefördert werden kann, so wenn die Restaurierung eines Reiterstandbildes ein anderes Gemälde darunter freigesetzt hat.
Die lange Schlange der draußen im leichten Regen Wartenden für die Michelangelo-Ausstellung unterstreicht die Begeisterung noch. Andererseits wird das in Perspektive gesetzt, wenn in einer Gesprächsrunde ein leitender Mitarbeiter des Museums diese als »Selbstläufer« einstuft. Auch die Londoner National Gallery, mit 2400 Objekten eine der größten und zudem populärsten Gemäldesammlungen der Welt, die jährlich über sechs Millionen Besucher anzieht, muss sich Gedanken machen über Budgets und Marketing. Die entsprechenden Diskussionen hat man bei Holzhausen ausführlicher gesehen, nur wird hier distinguierter gesprochen, selbst wenn es um mögliche Einsparungen durch personelle Entlassungen geht.
Wie üblich bei Wiseman gibt es keinen Kommentartext und keine Interviews, auch werden die Personen nicht namentlich identifiziert. Wer Das große Museum gesehen hat, weiß allerdings, dass der Herr, der hier das Sagen zu haben scheint, in der Tat Nicholas Penny ist, der Museumsleiter; alle anderen können aufgrund seines selbstsicheren Auftretens darauf schließen. Einige Erklärungen liefert auch der Kurator einer Ausstellung auf die Fragen eines Fernsehteams. Anderes wird nur kurz angerissen, wie etwa dass der Grundstock der Sammlung von jemandem gelegt wurde, der den Erwerb von Kunstwerken aus dem Sklavenhandel finanzierte. Eher rätselhaft bleibt die ganz kurze Szene einer nächtlichen Protestaktion, bei der an der Vorderseite des Gebäudes von Aktivisten ein Transparent mit der Aufschrift »It’s no oil painting. Save the arctic« enthüllt wird. Aber, und das ist die Hauptsache, Bilder werden lebendig – auch ohne die finale Szene einer Tanz-Performance vor ihnen.
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