Kritik zu Moleküle der Erinnerung – Venedig, wie es niemand kennt
»Venedig wie es niemand kennt« heißt der persönlich gehaltene Dokumentarfilm von Andrea Segre im Untertitel: eine Meditation über die Stadt und den Vater des Filmemachers
Immer wieder schwenkt die Kamera über die Piazza San Marco, nimmt die Arkaden der Uffizien in den Blick, vor denen die Stühle und Tische der Cafés in seltsamer Ruhe aufgestapelt stehen. Es scheint, dass die Kamera förmlich nach den Menschen sucht, die sich sonst hier tummeln. Aber sie sind nicht da. Der Marktplatz ist völlig leer. Keine Menschenschlange vor dem Markusdom, keine wartenden Leute vor dem Campanile. Ein ganz ungewohntes, irgendwie verrücktes Bild: Selbst in der späten Nacht eilen sonst Menschen über diesen Platz.
Der Filmemacher Andrea Segre ist Ende Februar 2020 nach Venedig gekommen, um, wie er im Off sagt, einen Film über das Hochwasser und den Tourismus zu machen. Darum geht es immer noch, am Rande, aber durch den Lockdown hat sich die Richtung verändert. Venedig gehört nun einzig den Venezianern, und Segre streift durch die Stadt, etwa an Bord der Gondel von Elena Almansi, die sonst Ruderkurse auf Englisch für die Touristen gibt. Genauso magisch wie die Bilder der leeren Piazza San Marco sind die vom spiegelglatten Canal Grande oder dem Canale de Giudecca. Keine weißen Flecken auf dem Wasser, keine Wellen, die sonst von den vielen Booten kommen. Das hat er seit 50 Jahren nicht gesehen, sagt am Anfang Maurizio, der lange Jahre das Hochwasserschutzzentrum leitete und dessen Spitzname »Caigo« ist, was Nebel im venezianischen Dialekt bedeutet.
Segres Aufenthalt ist auch eine Suche nach der Erinnerung an seinen Vater, der Venezianer war und mit einer Super-8-Kamera die Stadt und die Familie aufnahm. Uderico Segre war Chemiker, daher auch der Titel des Films, der das Leben des Vaters mit den Virus-Molekülen heute verbindet. Andrea Segre denkt über die Sprachlosigkeit zwischen Vater und Sohn nach und über ihren gemeinsamen letzten Tag. Die vielleicht ein halbes Jahrhundert alten Super-8-Sequenzen von den Kanälen und Gassen Venedigs verbinden sich magisch mit den Aufnahmen aus dem Lockdown zur Apotheose einer fragilen Stadt und einer fragilen Lebensweise.
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