Kritik zu Misericordia

© Salzgeber

Alain Guiraudie (»Der Fremde am See«), entfaltet in seinem neuen Film eine Parabel über den Einbruch des Begehrens in eine dörfliche Gemeinschaft 

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Es ist eine auf den ersten Blick ziemlich trostlose Welt, in die Jérémie (Félix Kysyl) zurückkehrt. Es ist das erste Mal seit Jahren, dass er wieder in das marode Dorf Saint-Martial im Department Ardèche fährt, wo er lange gelebt und eine Lehre in der dortigen Bäckerei gemacht hatte. Nun ist sein ehemaliger Chef und der Vater seines Jugendfreundes Vincent (Jean-Baptiste Durand) verstorben, die Beerdigung bereits angesetzt. Jérémie quartiert sich bei Witwe Martine (Catherine Frot) ein, die den Leichnam ihres Mannes noch im Ehebett aufgebahrt hat. 

Ohne ersichtlichen Grund beschließt Jérémie schon bald, seinen Aufenthalt zu verlängern. Er flaniert durch das herbstliche Dorf, das in seiner braungrauen Eintönigkeit wenig einladend wirkt, wie ziellos auf der Suche nach etwas, nach menschlichem Kontakt, nach Liebe womöglich oder Streit. Er begegnet alten Bekannten, Vincent vor allem, der auf seine Anwesenheit zunächst distanziert reagiert, dann zunehmend misstrauisch, schließlich wütend, weil er nicht erträgt, wie sich Jérémie im Haus seiner Mutter und im Dorf ausbreitet, das er vor langem verlassen hatte. Auf seinen Streifzügen durch diesen Mikrokosmos macht Jérémie auch Halt beim Einsiedler Walter (David Ayala), ein weiterer Bekannter von früher, mit dem er sich den einen oder anderen Pastis genehmigt. Das leicht erotisch aufgeladene Geplänkel droht dabei, in etwas zu kippen, das unheimlicher, womöglich riskanter sein könnte.

Was führt der Heimkehrer im Schilde? Und was hat es mit dem Titel »Misericordia«, lateinisch für Barmherzigkeit, auf sich, einem der zentralen Begriffe der christlichen Glaubenslehre? Zumal von einem Regisseur wie Alain Guiraudie, der sich in seinen Filmen wie »Der Fremde am See« (2013) dem Begehren in all seinen Ausformungen widmet. Auch hier entwickelt sich, was zunächst als Provinzposse erscheint, im Laufe der Zeit zu einer philosophisch verspielten Fantasie über Begierden, die sich ausbreiten und unvorhersehbar sprießen wie die Pilze im Waldboden am Rande des Dorfs. Und die dunklen Triebe, die daraus gedeihen.

»Misericordia« beruht lose auf Guiraudies eigenem, 2021 in Frankreich erschienenen Roman »Rabalaïre«, oder besser: auf einem Segment des mehr als tausendseitigen Werks. Es ist bereits der zweite Film, für den er sich aus diesem Roman bedient, nach »Viens je t’emmène«, der 2022 die Berlinale-Sektion Panorama eröffnete. Guiraudie zelebriert hier eine Art Teorema in der französischen Provinz, nur dass Jérémie kein Fremder ist wie in Pasolinis Film, der die Mitglieder einer gutbürgerlichen Familie verführt, und der Zauber dieses Films darin liegt, dass er vor sich hinwuchert, mal komisch, mal mysteriös, und sich letztlich, auch dank eines allzu menschlichen Dorfpfarrers, als Plädoyer für ein zärtlich-herzliches Miteinander entpuppt. Für die »Cahiers du cinéma« war dieses verschmitzte Vergnügen gar der beste Film des vergangenen Jahres. Eine gute Gelegenheit allemal, in Guiraudies ganz eigenes Universum einzutauchen.

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