Kritik zu Mi país imaginario – Das Land meiner Träume
Patricio Guzmán dokumentiert in seinem neuen Film den Kampf der Chilenen und Chileninnen für eine neue Verfassung
Wenn du ein Feuer filmen willst, musst du schon vorher dort sein, wo die erste Flamme aufflackert. Diese Dokumentarfilmer-Weisheit hatte der erfahrene Kollege Chris Marker dem jungen Patricio Guzmán mit auf den Weg gegeben, als er ihn in den 1970er-Jahren bei der Arbeit an seiner Trilogie »La batalla de Chile« unterstützte. So erzählt es der mittlerweile selbst langgediente Regisseur aus dem Off zu Beginn seines neuen Films. Doch als im Oktober 2019 die chilenische Jugend erstaunlich vehement erst gegen Fahrpreiserhöhungen und dann für ein besseres Leben auf die Straßen ging, war der in Paris lebende Regisseur nicht vor Ort. Fasziniert war er dennoch sofort vom rebellischen Geschehen. Und bald dann auch mit Kameramann Samuel Lahu dabei, wenn die AktivistInnen ihre Wut hinausschrien oder -trommelten und den schwer bewaffneten Militärs in Straßenkämpfen trotzten.
Die Politologin Claudia Heiss erklärt, dass die auch im Film sichtbare staatliche Brutalität auch mit der fehlenden Aufarbeitung der Diktatur in Militär und Polizei zu tun habe. Sie ist eine von einem ganzen Dutzend Aktivistinnen, Analystinnen und Unterstützerinnen, die im Film in ausführlichen Gesprächen vor der Kamera zu Wort kommen. Denn der mittlerweile über 80 Jahre alte Mann lässt in seinem Film (außer zwei Präsidenten Chiles) nur Frauen auftreten – neben dem sympathisierenden Kommentar ein weiteres Bekenntnis des Regisseurs zu der aus den Protesten hervorgegangenen Aufbruchsbewegung gegen patriarchale Dominanz und für sozialen Fortschritt.
In Patricio Guzmáns letztem Film »Die Kordillere der Träume« spielte das Gestein der chilenischen Kordilleren real und metaphorisch eine tragende Rolle im Rückblick auf die gewalttätige Geschichte des Landes. Nun sind die Steine der Anden als Wurfgeschosse der Aufbegehrenden wieder präsent. Und auch die Repression und Hoffnung auf Neubeginn sind für Guzmán ein Déjà-vu. In diesem Fall führte die »indignación« nach einem Jahr zu dem von den Protestierenden geforderten Referendum, bei dem 80 Prozent der teilnehmenden ChilenInnen eine konstituierende Versammlung für die Erarbeitung einer neuen Verfassung befürworten.
Eine Versammlung, der erstmals eine Frau aus dem indigenen Mapuche-Volk als Präsidentin vorsteht. Auch viele andere Abgeordnete treten mit Leidenschaft für demokratische Teilhabe aller Teile der chilenischen Gesellschaft ein. Guzmáns von persönlichem Engagement getragenen Film fehlen allerdings konkrete politische Details zum Verfahren und auch der Hinweis auf Widerstände gegen das Projekt. In diesem Sinn endet er hoffnungsvoll mit einer flammenden Rede des im März 2022 gewählten jungen linken Präsidenten Gabriel Boric für Frauenrechte. Auf den Ausgang des für September angesetzten Referendums über die neue Verfassung wollten Produktion und Regie offensichtlich nicht warten. Das hätte – in Umkehr von Markers Rat – den 2022 in Cannes uraufgeführten Film sicherlich kompliziert, aber auch bereichert.
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